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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Pinsel zu langen, den er wol sein Leben lang nicht wieder weglegen wird. Ohne Unterricht und ohne Kenntniß der ersten Regeln begann er Alles zu zeichnen, was ihm unter die Hände gerieth. Drei volle Jahre saß er wie angekettet über seinen Sudeleien; nur sein Dienst konnte ihn auf Augenblicke davon losreißen, und die geringen Fortschritte, die er bei seinen mittelmäßigen Anlagenmachte, vermochten ihn nicht zu entmuthigen. Ich habe gesehen, wie er in einem glühend heißen Sommer sechs Monate lang in einem kleinen nach Süden zu gelegenen Vorzimmer, wo man beim bloßen Durchgehen ersticken zu müssen glaubte, den ganzen Tag auf seinem Stuhle saß oder vielmehr angeschmiedet war. Seine Beschäftigung bestand darin, einen vor ihm stehenden Globus wieder und wieder abzuzeichnen und mit unüberwindlicher Hartnäckigkeit stets neue Versuche zu machen, bis ihm die kugelförmige Figur zu seiner Zufriedenheit gelungen war. Durch Unterstützung seines Herrn und unter Leitung eines Künstlers ist er endlich so weit gekommen, die Livree ausziehen und von seinem Pinsel leben zu können. Bis zu einer gewissen Grenze ist Beharrlichkeit im Stande das Talent zu ersetzen, diese Grenze hat er erreicht und wird sie nie überschreiten. Die Ausdauer und der Eifer dieses ehrlichen Menschen sind jedenfalls anerkennenswerth; seinem Fleiße, seiner Treue und seinen Sitten wird nie die Achtung versagt werden, aber er wird es nie weiter als zum Schildermaler bringen. Wer würde durch seinen Eifer nicht getäuscht worden sein und ihn nicht für ein wahres Talent gehalten haben? Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob man an einer Arbeit nur Gefallen findet, oder ob man auch Fähigkeit zu derselben besitzt. Es sind feinere Beobachtungen, als man im Allgemeinen annimmt, dazu nöthig, um sich von dem wahren Genie und der wahren Neigung eines Kindes zu überzeugen, welches weit häufiger seine Wünsche als seine Anlagen zu zeigen pflegt. Leider beurtheilt man es immer nur nach den ersteren, weil man letztere nicht zu studiren versteht. Ich wünschte, daß ein Mann, dem es nicht an der nöthigen Beobachtungsgabe fehlte, uns eine Abhandlung über die Kunst, die Kinder zu beobachten, schriebe. Diese Kunst ist wahrlich wissenswerth; aber die Väter und die Lehrer sind noch nicht einmal mit ihren Anfangsgründen bekannt.
    Aber vielleicht legen wir der Wahl eines Handwerks eine allzu große Wichtigkeit bei. Da es sich hier ja nur um eine Handarbeit handelt, fällt meinem Emil diese Wahl nicht schwer. Dazu kommt, daß er in Folge derUebungen, mit denen wir ihn bis jetzt beschäftigt haben, seine Lehrzeit schon zur Hälfte zurückgelegt hat. Was für Ansprüche erhebt ihr an ihn? Er ist zu Allem geschickt. Er versteht mit Spaten und Hacke umzugehen, weiß mit der Drehbank, dem Hammer, dem Hobel, der Feile Bescheid, ist mit den Werkzeugen aller Handwerke vertraut. Jetzt ist nur noch nöthig, daß er eins derselben so leicht und sicher gebrauchen lerne, daß er es mit tüchtigen Arbeitern, die sich desselben bedienen, an Gewandtheit aufnehmen kann; und gerade in diesem Punkte hat er vor ihnen Allen durch seinen gewandten Körper und seine geschmeidigen Glieder, die ihn befähigen, ohne Mühe jede Stellung anzunehmen und ohne Anstrengung jegliche Bewegung längere Zeit aushalten zu können, einen großen Vortheil voraus. Damit noch nicht genug, sind auch seine Organe scharf und gehörig ausgebildet; die ganze Mechanik der Künste ist ihm schon bekannt. Zur Meisterschaft gebricht es ihm nur an der Fertigkeit, und diese ist lediglich eine Sache der Zeit. Auf welches der Handwerke, unter welchen uns noch die Wahl freisteht, wird er nun so viel Zeit verwenden, daß er sich darin die nöthige Geschicklichkeit erwirbt? Das ist die einzige Frage, um die es sich noch handelt.

    Gebt dem Manne ein Handwerk, welches seinem Geschlechte geziemt, und dem Jünglinge ein solches, welches seinem Alter ansteht. Jede sitzende an das Zimmer fesselnde Berufstätigkeit, die den Körper verweichlicht und entkräftet, spricht ihn nicht an und ist ihm nicht dienlich. Nie wird ein Knabe aus eigenem Antriebe das Geschäft eines Schneiders ergreifen. Man muß alle Kunst aufbieten, um das Geschlecht, welches die Natur nicht zu dieser Frauenarbeit [15] bestimmt hat, zur Wahl derselben zu bewegen. Nadel und Degen sollten nicht von denselben Händen geführt werden dürfen. Wäre ich Monarch, so würde ich das Nähen und sämmtliche Nadelarbeiten nur den Weibern und den Lahmen

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