Emil oder Ueber die Erziehung
wirklich empfindet, zu sagen, so ist, da sich sein Urtheil rein passiv verhält, eine Täuschung eine Unmöglichkeit. Läßt er sich bei seinem Urtheile dagegen durch den Schein leiten, so ist dasselbe activ; er vergleicht und stellt durch Schlüsse Verhältnisse fest, die er nicht wahrnimmt. Dann täuschter sich oder kann sich wenigstens täuschen. Es gehört Erfahrung dazu, um den Irrthum zu verbessern oder ihm vorzubeugen.
Zeigt ihr des Nachts eurem Zöglinge Wolken, die zwischen ihm und dem Monde vorüberziehen, so wird er sich dem Wahne hingeben, daß sich der Mond nach der den Wolken entgegengesetzten Seite bewege, während ihm diese still zu stehen scheinen. Diese Annahme bildet sich in ihm durch einen voreiligen Schluß, weil er aus Erfahrung weiß, daß die kleineren Körper gewöhnlich eine stärkere Bewegung als die großen haben, und weil ihm die Wolken größer als der Mond vorkommen, dessen Entfernung er nicht richtig zu schätzen vermag. Betrachtet er dagegen von einem auf den Wellen dahintreibenden Boote aus das etwas entfernte Ufer, so verfällt er in den entgegengesetzten Irrthum und glaubt eine Bewegung des Landes wahrzunehmen, weil er seine eigene Bewegung nicht merkt und folglich das Boot, das Meer oder den Fluß und die ganze Gegend, so weit er sie zu überschauen im Stande ist, für ein unbewegliches Ganzes hält, von dem ihm das Ufer, das er an sich vorüber ziehen steht, nur ein Theil zu sein scheint.
Erblickt ein Kind zum ersten Male einen bis zur Hälfte ins Wasser getauchten Stock, so zeigt er sich dem Auge desselben zerbrochen. Die sinnliche Wahrnehmung ist vollkommen richtig und, selbst wenn wir uns den Grund dieser Erscheinung nicht erklären könnten, würde sie nicht aufhören, es zu sein. Fragt ihr es deshalb, was es sieht, so antwortet es: »Einen zerbrochenen Stock«, und es sagt die volle Wahrheit, denn es hat in der That den Eindruck eines zerbrochenen Stockes erhalten. Geht es jedoch, durch sein Urtheil irre geleitet, weiter und fügt es seiner Behauptung, es nehme einen zerbrochenen Stock wahr, auch noch die Behauptung hinzu, daß derselbe es in Wirklichkeit sei, dann sagt es etwas durchaus Falsches. Und weshalb? Weil das Urtheil dann activ auftritt und das Kind nicht mehr nach der sinnlichen Wahrnehmung, sondern in Folge eines Schlusses urtheilt und etwas behauptet, wovon es keinen sinnlichen Eindruck empfangen hat, nämlich daß dasdurch einen Sinn hervorgerufene Urtheil auch noch die Bestätigung eines anderen Sinnes erhalten werde.
Da alle unsere Irrthümer lediglich aus unseren Urtheilen hervorgehen, so ist so viel klar, daß, brauchten wir niemals zu urtheilen, wir auch nicht zu lernen nöthig hätten. Wir würden uns dann niemals in dem Falle befinden, uns zu täuschen und in unserer Unwissenheit jedenfalls glücklicher sein, als wir bei unserem Wissen je sein können. Wer wollte läugnen, daß die Gelehrten wirklich tausenderlei Wahrheiten kennen, welche die Laien in der Wissenschaft niemals kennen lernen werden? Sind die Gelehrten aber deshalb schon der Wahrheit näher? Gerade im Gegentheil; je weiter sie fortschreiten, desto mehr entfernen sie sich nur von ihr, weil die Eitelkeit, Urtheile zu fällen, die Zunahme ihrer Einsichten weit überflügelt, und mit jeder Wahrheit, die sie finden, hundert falsche Urtheile Hand in Hand gehen. Mit unumstößlicher Gewißheit kann nachgewiesen werden, daß die gelehrten Gesellschaften Europas nur Brutstätten der Lüge sind, und sicherlich gibt es in der Akademie der Wissenschaften mehr Irrthümer als bei dem ganzen Stamme der Huronen.
Da die Menschen desto mehr Irrthümern ausgesetzt sind, eine je höhere Wissensstufe sie einnehmen, so besteht das einzige Mittel, den Irrthum zu vermeiden, in der Unwissenheit. Urtheilt nie, so werdet ihr euch auch nie irren. Diese Lehre gibt uns sowol die Natur wie die Vernunft. Mit Ausnahme einer äußerst geringen Anzahl unmittelbarer und sich uns sehr fühlbar machender Beziehungen, in denen wir zur Außenwelt stehen, erfüllt uns von Natur eine tiefe Gleichgiltigkeit gegen alles Uebrige. Ein Wilder würde keinen Fuß in Bewegung setzen, um den Gang der vollkommensten Maschine und alle Wunder der Elektricität anzusehen. »Was kümmert mich das?« Diesen Ausruf hört man so häufig aus dem Munde der Ungelehrten, und doch würde er sich im Munde der Gelehrten am allerbesten ausnehmen.
Unglücklicherweise paßt dies Wort nicht mehr auf unsere Verhältnisse. Seitdem wir von Allem abhängen,
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