Emil oder Ueber die Erziehung
dieselben anzueignen. Ich zeige ihm den Weg der Wissenschaft, der zwar bequem zur Wahrheit führt, der aber lang, unendlich lang ist und auf dem sich nur langsam fortkommen läßt. Ich lasse ihn die ersten Schritte thun, damit er den Eingang kennen lerne, aber ich erlaube ihm nicht, allzu weit vorzudringen.
Gezwungen, seine Kenntnisse sich selbst zu erwerben, stützt er sich auf seine eigene Vernunft und nicht auf die eines Anderen, denn um dem Vorurtheile kein Zugeständniß zu machen, darf er auch der Autorität keinen Einfluß gestatten. Für den größten Theil unserer Irrthümer tragen nicht wir die Schuld, sondern Andere. Diese unausgesetzte Uebung muß eine Stärke des Geistes hervorbringen, die derjenigen ähnlich ist, welche der Körper durch Arbeit und Anstrengung erlangt. Dazu tritt noch der Vortheil, daß man nur nach Maßgabe seiner Kräfte fortschreitet. Wie der Körper hält auch der Geist nur so viel aus, als er auszuhalten vermag. Eignet sich der Verstand die Dinge an, bevor sie Eigenthum des Gedächtnisses werden, so gehört ihm auch Alles, was er daraus herleitet. Ueberladet man sich dagegen das Gedächtniß mit unverstandenem Wissen, so setzt man sich der Gefahr aus, nie daraus eine Frucht zu gewinnen, die unser bleibendes Eigenthum werden könnte.
Emil besitzt wenig Kenntnisse, aber diejenigen, welche er besitzt, sind wirklich sein Eigen; er weiß nichts halb. Unter dem Wenigen, was er weiß und zwar gründlich weiß, ist das Wichtigste, daß es Vieles gibt, was ihm unbekannt ist, was er aber später vielleicht wissen kann; daß es noch weit mehr gibt, was andere Leute wissen, und was er in seinem ganzen Leben nicht kennen lernen wird, und daß es endlich noch eine unendliche Menge von anderen Dingen gibt, die nie ein Mensch wissen wird. Er hat einen universellen Geist, nicht was seine Einsichten, wol aber was seine Fähigkeit anlangt, sich solche zu erwerben, ferner einen offenen, klugen, für Alles bereiten und, wie Montaigne sagt, wenn auch nicht unterrichteten, so doch unterrichtsfähigen Geist. Für mich ist es völlig ausreichend, daß er bei Allem, was er thut, das »Wozu nützt es«, und bei Allem, was er glaubt, das »Warum« zu finden weiß. Denn noch einmal, ich gehe nicht darauf aus, ihm die Wissenschaft selbst, sondern nur die Kunst beizubringen, sich dieselbe nach Bedürfniß zu erwerben, sie nach ihrem wahren Werthe zu schätzen und ihm eine solche Liebe zur Wahrheit einzuflößen, daß er sie höher achtet, als alles Uebrige. Bei dieser Methode macht man freilich nur langsame Fortschritte, thut dafür aber auch nie einen unnützen Schritt und ist nie genöthigt wieder zurückschreiten zu müssen.
Emil besitzt nur Naturkenntnisse und zwar rein physische, Geschichte kennt er nicht einmal dem Namen nach, und eben so wenig weiß er, was Metaphysik oder Moral ist. Obwol er die wesentlichen Beziehungen des Menschen zu den Dingen kennt, sind ihm doch die moralischen Beziehungen des Menschen zum Menschen völlig unbekannt. Auf die Verallgemeinerung und Abstraction der Begriffe versteht er sich nur wenig. Er macht die Beobachtung, daß gewisse Körper gemeinsame Eigenschaften haben, ohne über diese Eigenschaften an sich Schlüsse zu ziehen. Er kennt vermittelst der geometrischen Figuren den abstracten Raum und vermittelst der algebraischen Zeichen die abstracte Größe. Diese Figuren und diese Zeichen sind die Träger seiner Abstractionen; auf ihnen fußen seine Sinne.Er bestrebt sich nicht die Dinge ihrem Wesen nach kennen zu lernen, sondern nur in Bezug auf die Verhältnisse, die sein Interesse erregen. Was ihm fremd ist, schätzt er nur nach der Beziehung desselben auf ihn selbst; aber diese Schätzung ist genau und sicher; phantastische oder vorurtheilsvolle Anschauungen finden darin keine Stelle. Auf das, was ihm nützlich ist, legt er den höchsten Werth, und da er von dieser Art zu schätzen nie abgeht, so läßt er sich auch durch die öffentliche Meinung nie bestimmen.
Emil ist arbeitsam, mäßig, geduldig, stark und muthig. Seine Einbildungskraft, die bis jetzt noch in keiner Weise erhitzt ist, vergrößert ihm nie die Gefahren. Er ist gegen die meisten Uebel unempfindlich und weiß mit Standhaftigkeit zu leiden, weil er nicht gelernt hat, wider das Schicksal anzukämpfen. Was den Tod anlangt, so weiß er noch nicht recht, was derselbe ist; indeß gewöhnt, sich ohne Widerstand dem Gesetze der Notwendigkeit zu unterwerfen, wird er, falls ihm der Tod nahte, ohne Seufzen und
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