Emil oder Ueber die Erziehung
geben wollten, als wenn wir gar keinen fänden. »Ich weiß nicht« ist ein Ausdruck, welchen wir Beide so oft im Munde führen und so oft wiederholen, daß weder dem Einen noch dem Anderen seine Anwendung sauer wird. Ob ihm indeß eine unüberlegte Antwort entschlüpfen möge, oder ob er sie durch unser bequemes »Ich weiß nicht« zu vermeiden suche, immer wird meine Erwiderung gleich lauten: »Laß uns zusehen, laß uns untersuchen.«
Jener bis zur Hälfte ins Wasser getauchte Stock hat eine senkrechte Richtung. Wie viel haben wir doch, um zu erfahren, ob er wirklich zerbrochen ist, wie es scheint, erst noch zu thun, bevor wir ihn aus dem Wasser ziehen oder auch nur mit der Hand berühren!
1. Zunächst betrachten wir uns den Stock von allen Seiten und machen die Wahrnehmung, daß der Bruch jeder unserer Stellungen folgt. Der Grund dieser Veränderung liegt also ausschließlich in unserem Auge, und doch sind die Blicke nicht im Stande, Körper in Bewegung zu setzen.
2. Darauf blicken wir in senkrechter Richtung auf das Ende des Stockes herab, welches aus dem Wasser hervorragt. Nun sieht er nicht mehr gebrochen aus; das unserem Auge zunächst liegende Ende deckt das untere genau. [18]
Hat denn unser Auge etwa den Stock wieder gerade gerichtet?
3. Wir bringen die Oberfläche des Wassers in Bewegung. Sofort nehmen wir wahr, daß der Stock in mehrere Stücke zerbricht, sich im Zickzack hin und her bewegt und den Wellenbewegungen des Wassers folgt. Reicht demnach schon die Bewegung, in die wir das Wasser setzen, hin, den Stock zu zerbrechen, zu erweichen und in einen flüssigen Zustand zu verwandeln?
4. Endlich lassen wir das Wasser abfließen und sehen, wie sich der Stock in dem Maße, in welchem das Wasser sinkt, nach und nach gerade richtet. Ist dies nicht mehr als nöthig ist, um die Thatsache aufzuklären und sich daraus die Lehre von der Brechung des Lichtes zu entwickeln? Es beruht also nicht auf Wahrheit, daß das Gesicht uns täusche, da wir uns nur auf das Auge zu verlassen brauchen, um die Irrthümer zu berichtigen, deren Schuld wir ihm zuschreiben.
Angenommen, das Kind wäre zu beschränkt, um das Resultat dieser Beobachtungen begreifen zu können. Gut, dann müßten wir zur Unterstützung des Gesichts auch noch das Gefühl aufbieten. Laßt den Stock, anstatt ihn aus dem Wasser zu ziehen, in seiner gegenwärtigen Stellung, und das Kind fahre nun mit der Hand von einem Ende bis zum anderen an ihm hinab. Nirgends wird es einen Winkel bemerken; der Stock ist also nicht zerbrochen.
Ihr werdet mir einwenden, daß es sich hierbei schon nicht allein um Urtheile handle, sondern um förmliche Schlußfolgerungen. Ja, ich gebe es zu; aber seht ihr nicht ein, daß, sobald der Geist einmal bis zu den Ideen gelangt ist, jedes Urtheil eine Schlußfolgerung ist? Das sich Bewußtwerden jeder Sinneswahrnehmung ist ein Satz, ein Urtheil. Folglich schließt man auch, sobald man eine Sinneswahrnehmung mit einer anderen vergleicht. Die Kunst zu urtheilen und die Kunst zu schließen sind genau dasselbe.
Nach meinem Willen soll Emil die Dioptrik an diesem Stabe lernen, oder er soll nie mit ihr bekannt gemacht werden. Er wird weder Insecten secirt noch die Sonnenflecken gezählt haben; er wird weder wissen, was ein Mikroskop noch was ein Teleskop ist. Eure hochgelahrten Zöglinge werden ihn wegen seiner Unwissenheit auslachen. Sie werden keineswegs Unrecht haben, denn ich verlange, daß er diese Instrumente, ehe er sich ihrer bedient, selbst erfinde, und ihr könnt euch wol vorstellen, daß dies Zeit erfordert.
Hierin ist der Geist meiner ganzen Methode währenddieser Periode zusammengefaßt. Wenn das Kind eine kleine Kugel zwischen zwei kreuzweise über einander gelegten Fingern rollen läßt und dabei deren zwei zu fühlen glaubt, so werde ich ihm nicht eher gestatten, daß es sich mit seinen Augen überführt, als bis es sich mit Schlüssen überzeugt hat, daß es wirklich nur eine Kugel ist.
Diese Erklärungen werden, wie ich denke, genügen, um die Fortschritte, die mein Zögling bisher in seiner geistigen Entwickelung gemacht hat, sowie den Weg, auf welchem er sie erreicht hat, deutlich zu bezeichnen. Aber ihr seid vielleicht über die Menge der Gegenstände, die ich an ihm vorübergeführt habe, erschrocken; ihr hegt vielleicht Besorgniß, daß ich seinen Geist unter dieser Menge von Kenntnissen erdrücke. Es verhält sich gerade umgekehrt. Ich lehre ihn weit mehr die Kunst, sich ohne sie zu behelfen, als sich
Weitere Kostenlose Bücher