Emil oder Ueber die Erziehung
Buch.
Wie schnell verstreicht doch unsere Pilgerzeit in diesem Erdenleben! Das erste Viertel des Lebens ist verflossen, noch ehe man es anzuwenden versteht, und das letzte Viertel vergeht, nachdem man bereits aufgehört hat, es zu genießen. Anfangs verstehen wir noch nicht zu leben, bald sind wir es nicht mehr im Stande, und in dem Zwischenraume, welcher diese beiden nutzlosen Endpunkte von einander trennt, werden drei Viertel der Zeit, die uns noch bleibt, mit Schlaf, Arbeit, Schmerz, Zwang und Mühen aller Art hingebracht. Das Leben ist kurz, weniger in Folge der kurzen Zeitdauer, als vielmehr, weil uns von derselben fast keine zu ihrem Genusse übrig bleibt. Mag der Augenblick des Todes von dem der Geburt auch noch so fern sein, so ist und bleibt das Leben doch immer viel zu kurz, wenn dieser Zwischenraum schlecht ausgefüllt wird.
Gewissermaßen werden wir zweimal geboren, das eine Mal zum Dasein, das andere Mal zum Leben; das eine Mal für die Gattung, das andere Mal für das Geschlecht. Obwol diejenigen, welche das Weib für einen unvollkommenen Menschen halten, ohne Zweifel Unrecht haben, so können sie sich doch auf die äußere Analogie berufen. Bis zu dem Alter der Mannbarkeit unterscheiden sich die Kinder beiderlei Geschlechts in keiner auffallenden Weise von einander. Dieselbe Gesichtsbildung, dieselbe Gestalt, dieselbe Hautfarbe, dieselbe Stimme, kurz Alles ist gleich. Die Mädchen sind Kinder, die Knaben sind Kinder; der nämliche Namen reicht zur Bezeichnung so ähnlicher Wesen aus. Männliche Personen, deren völlige geschlechtliche Entwickelung verhindert wurde, behalten diese übereinstimmenden Merkmale ihr ganzes Leben lang. Sie bleiben stets große Kinder, und Frauen scheinen, da sie die nämlichen Merkmale nie verlieren, in vieler Hinsicht nie etwas Anderes zu sein.
Doch im Allgemeinen ist der Mann nicht dazu geschaffen, um für immer auf der Stufe der Kindheit stehen zu bleiben. In einer von der Natur vorgeschriebenen Zeit tritt er aus derselben heraus. So kurz nun dieser entscheidende Moment auch sein möge, so übt er doch auf lange Zeit einen hervorragenden Einfluß aus.
Wie das Brausen des Meeres dem Sturme schon lange vorangeht, so meldet sich auch dieser unter Stürmen vor sich gehende Umschwung schon zeitig durch die immer stärker werdende Stimme der erwachenden Leidenschaften an. Eine dumpfe Gährung kündigt die Annäherung der Gefahr an. Ein fortwährender Wechsel der Gemüthsstimmung, häufige Aufwallungen, eine unaufhörliche geistige Aufgeregtheit versetzen das Kind in einen fast unlenkbaren Zustand. Es wird taub gegen die Stimme, auf die es sonst willig gelauscht hatte; es gleicht einem fieberhaft erregten Löwen. Es will seinen Führer nicht mehr kennen, will sich keiner Leitung mehr unterwerfen.
Zu den moralischen Anzeichen einer sich verschlimmernden Gemüthsstimmung treten noch sichtliche Veränderungen in seiner körperlichen Beschaffenheit hinzu. Seine Physiognomie nimmt festere Züge an und es prägt sich auf ihr allmählich ein bestimmter Charakter aus. Dunkler und dichter wird der spärliche und weiche Flaum, der auf dem unteren Theile seiner Wangen hervorsproßt; seine Stimme wechselt oder es verliert dieselbe vielmehr. Es ist weder Kind noch Mann, und ist weder im Stande den Ton des Einen noch den des Anderen anzunehmen. Seine Augen, diese Organe der Seele, die bisher nichtssagend waren, erhalten Sprache und Ausdruck. Ein plötzlich aufflammendes Feuer belebt sie; ihre jetzt lebhafteren Blicke reden zwar noch die Sprache einer heiligen Unschuld, verrathen aber nicht mehr ihre anfängliche Einfalt. Das Kind trägt schon das Gefühl in sich, daß sie zu viel sagen können, und beginnt sie niederzuschlagen und zu erröthen. Es wird gefühlvoll, bevor es sich noch bewußt wird, was es eigentlich fühlt. Es wird unruhig, ohne daß es Grund dazu hat. Alle diese Erscheinungen können sich langsam einstellen und euch noch hinreichende Zeit gewähren. Wennaber seine Lebhaftigkeit Ungeduld verräth, wenn sein Aufbrausen einen leidenschaftlichen Charakter annimmt, wenn es in einem Augenblicke zornig auffährt und sich seiner im nächsten Augenblicke eine weiche Stimmung bemächtigt, wenn es ohne Ursache Thränen vergießt; wenn ihm in der Nähe derer, die ihm jetzt gefährlich zu werden beginnen, sein Puls schneller schlägt und sein Auge sich entstammt, wenn es zusammenschaudert, sobald sich die Hand einer Frau auf die seinige legt; wenn es in der Nähe eines weiblichen
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