Emil oder Ueber die Erziehung
Sträuben sterben, und das ist Alles, was die Natur in diesem von Allen verabscheuten Augenblicke zuläßt. Frei zu leben und sich so wenig wie möglich von menschlichen Dingen fesseln zu lassen, ist das beste Mittel, sterben zu lernen.
Mit einem Worte, Emil besitzt von der Tugend Alles, was auf ihn selbst Bezug hat. Um sich auch die gesellschaftlichen Tugenden zu erwerben, fehlt ihm lediglich die Kenntniß der Verhältnisse, welche dieselben nothwendig machen. Folglich fehlen ihm einzig und allein solche Einsichten, zu deren Aufnahme sein Geist die nöthige Fähigkeit besitzt.
Er betrachtet sich ohne Rücksicht auf Andere und ist ganz damit einverstanden, wenn sich Andere nicht um ihn kümmern. Er verlangt von Niemandem etwas und glaubt auch nicht gegen irgend Jemanden Verpflichtungen zu haben. Er steht allein in der menschlichen Gesellschaft da und rechnet nur auf sich allein. Und er ist auch mehr als jeder Andere berechtigt, auf sich selbst zu zählen, denn er ist Alles, was man in seinem Alter sein kann. Er hat keine Irrthümer, oder wenigstens nur solche, die wirMenschen nun einmal von uns nicht fern halten können. Er hat keine Fehler, oder doch nur solche, vor welchen kein Mensch sich hüten kann. Er besitzt einen gesunden Körper, gewandte Glieder, einen gesunden und vorurtheilslosen Geist, ein freies und leidenschaftsloses Herz. Die Eigenliebe, die erste und natürlichste aller Leidenschaften, hat sich noch kaum in ihm geregt. Ohne Jemandes Ruhe zu stören, hat er so zufrieden, glücklich und frei gelebt, wie es die Natur nur immer zuließ. Glaubt ihr, daß ein Kind, welches sein fünfzehntes Jahr in dieser Weise erreicht hat, die vorhergehenden Jahre verloren habe?
Ende des ersten Bandes.
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Anmerkungen zu Buch Drei
[1] Ich habe mich des Lachens nicht enthalten können, als ich des Herrn Formey feine Kritik über diese kleine Erzählung las. »Dieser Taschenspieler,« sagt er, »der die Nacheiferung eines Kindes übelnimmt und seinem Lehrer deshalb in allem Ernste Vorwürfe macht, ist ein Geschöpf aus der Welt des Emil.« Der geistreiche Herr Formey hat sich nicht vorstellen können, daß diese kleine Scene abgekartet und der Taschenspieler über die Rolle, die er zu spielen hatte, unterrichtet war; denn das hatte ich allerdings nicht ausdrücklich hinzugesetzt. Aber wie oft habe ich dagegen nicht schon erklärt, daß ich nicht für Leute schreibe, denen man Alles sagen muß!
[2] Habe ich wol einen Leser voraussetzen dürfen, der so beschränkt wäre, bei dieser Unterredung nicht zwischen den Zeilen herauszulesen, daß der Erzieher selbst ihm diesen Verweis Wort für Wort und in ganz bestimmter Absicht vorgeschrieben hatte? Hat man Ursache mich für so beschränkt zu halten, daß ich im Stande wäre, einem Taschenspieler diese Sprache als die ihm natürliche in den Mund zu legen? Ich glaubte den Beweis geliefert zu haben, daß mir wenigstens das doch ziemlich dürftige Talent nicht abgeht, die Leute in dem Geiste ihres Standes reden zu lassen. Man vergleiche noch das Ende des folgenden Abschnittes. Hieß dies nicht für jeden Andern als Herrn Formey Alles sagen?
[3] Diese Demüthigungen und Unannehmlichkeiten sind also von mir und nicht von dem Taschenspieler ausgegangen. Da Herr Formey sich noch bei meinen Lebzeiten meines Buches bemächtigen und es drucken lassen wollte, wobei er ohne Weiteres meinen Namen wegnahm und den seinigen an dessen Stelle setzte, so hätte er sich doch wenigstens die Mühe nehmen sollen, ich will nicht gerade sagen es selbst zu verfassen, aber doch es zu lesen.
[4] Ich habe häufig bemerkt, daß man bei dem gelehrten Unterrichte, den man den Kindern ertheilt, weniger daran denkt, sich diesen verständlich zu machen, als vielmehr darauf ausgeht, sich den Beifall der anwesenden Erwachsenen zu erwerben. Ich bin von der Richtigkeit dieser Behauptung vollkommen überzeugt, denn ich habe die Beobachtung an mir selbst gemacht.
[5] Bei jeder Erläuterung, welche man dem Kinde geben will, dient eine vorausgehende etwas umständliche Vorbereitung im hohen Grade dazu, seine Aufmerksamkeit zu erregen.
[6] Obgleich nicht alle Weine, welche man flaschenweise bei Weinhändlern in Paris kauft, mit Glätte versehen sind, so sind sie dessenungeachtet selten ganz von Blei frei, weil die Gefäße dieser Kaufleute mit diesem Metalle belegt sind, und weil der in ein solches Maß gegossene Wein dadurch, daß er über das Blei hinwegläuft oder sogar längere Zeit
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