Emil oder Ueber die Erziehung
zu unterweisen, in der Wissenschaft von den Pflichten des Menschen. Diese Wissenschaft bildet eine völlig in sich abgeschlossene Einheit, und was auch immer Xenophon von der Erziehung der Perser gesagt hat, sie läßt sich nicht theilen. Uebrigens nenne ich den Lehrer dieser Wissenschaft weit lieber Erzieher als nur Lehrer, weil es sich für ihn weniger um Unterrichtsertheilung als um angemessene Leitung handelt. Er soll nicht blos Regeln geben, sondern seinen Zögling daran gewöhnen, sie selbst aufzufinden.
Wenn man aber bei der Wahl eines Erziehers mit so großer Vorsicht zu Werke gehen muß, so wird es diesem wol ebenfalls gestattet sein müssen, sich seinen Zögling zu wählen, besonders wenn man sich die Aufgabe gestellt hat, ein Muster aufzustellen. Aus diese Wahl vermögen weder die Anlagen noch der Charakter des Kindes einen bestimmenden Einfluß auszuüben, da sie sich ja erst nach Vollendung des Werkes ganz erkennen lassen, und ich mir meinen Zögling schon vor seiner Geburt wähle. Wenn mir die Wahl frei stände, würde sie auf ein Kind fallen, das sich durch keine hervorragenden Anlagen auszeichnet, und so stelle ich mir auch meinen Zögling vor. Nur gewöhnliche Menschen bedürfen der Erziehung, ihre Erziehung allein kann für diejenige, welche bei allen ihnen an Begabung Gleichstehenden beobachtet werden muß, zum Muster dienen. Die Andern erziehen sich aller Gegenbemühungen ungeachtet allein.
Das Land ist für die Bildung der Menschen ebenfalls von wesentlichem Einfluß. Nur in den gemäßigten Himmelsstrichen können sie die höchste Entwickelungsstufe erreichen. Der schädliche Einfluß der extremen Klimate läßt sich deutlich nachweisen. Ein Mensch wird nicht wie ein Baum in ein Land gepflanzt, um beständig darin zu bleiben, und wer von einem Extrem zum andern gelangen will, ist gezwungen einen doppelt so großen Weg wie derjenige zurückzulegen, der vom Mittelpunkte aus demselben Ziele entgegeneilt.
Selbst in dem Falle, daß der Bewohner eines gemäßigten Himmelsstriches die beiden klimatischen Extreme nach einander durchreist, ist er offenbar im Vortheile; denn obgleich er den klimatischem Temperaturwechsel in gleich hohem Grade wie derjenige ausgesetzt ist, welcher von einem äußersten Endpunkte zum andern geht, so entfernt er sich dennoch um die Hälfte weniger von den ihm zusagenden und gewohnten Verhältnissen! Ein Franzose ist eben so gut im Stande in Guinea wie in Lappland zu leben, aber ein Neger wird nicht eben so gut in Tornea, noch ein Samojede in Benin auszuhalten vermögen. Uebrigens scheint auch die Organisation des Gehirnes innerhalb der beiden äußersten Zonen weniger vollkommen zu sein. Weder die Neger noch die Lappen können sich an Verstand mit den Europäern messen. Hege ich also den aufrichtigen Wunsch, daß mein Zögling sich überall auf Erden aufzuhalten vermag, so werde ich ihn mir aus einer der beiden gemäßigten Zonen wählen, aus Frankreich z. B. lieber als anderswoher.
Im Norden bedürfen die Menschen auf ihrem unergiebigen Boden viel Nahrungsstoff, im Süden dagegen auf fruchtbarem Boden nur wenig. Daraus ergibt sich eine neue Verschiedenheit, indem erstere zur rastlosen Thätigkeit gezwungen werden, während letztere ein mehr beschauliches Leben führen. Ein Bild dieser Verschiedenheit bietet uns die heutige Gesellschaft an einem und demselben Orte in den Armen und den Reichen dar. Jene bewohnen den unergiebigen Boden, diese den fruchtbaren.
Der Arme hat keine Erziehung nöthig; die für seinen Stand ausreichende wird ihm schon durch die Verhältnisse aufgezwungen: er wäre nicht in der Lage sich eine andere zu verschaffen. Im Gegentheil ist die Erziehung, welche der Reiche von seinem Stande erhält, sowol ihm selbst als auch der Gesellschaft am wenigsten dienlich. Außerdem muß eine naturgemäße Erziehung nicht einen einzigen Stand ins Auge fassen, sondern einem Menschen die Fähigkeit mittheilen, sich in allen Lebenslagen bewegen zu können. Nun ist es aber offenbar weniger vernünftig, einen Armen mit Rücksicht auf die Möglichkeit, dereinst reichzu werden, als einen Reichen mit Rücksicht auf seine mögliche Verarmung zu erziehen; denn es steht fest, daß die Zahl der Verarmten die der Emporgekommenen überwiegt. Unsere Wahl soll deshalb auf einen Reichen fallen; wenigstens werden wir dann zu der befriedigenden Gewißheit gelangen, einen Menschen mehr gebildet zu haben, wohingegen ein Armer durch sich selbst ein Mensch zu werden vermag.
Aus
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