Emil oder Ueber die Erziehung
gehören seine Erziehung zu leiten, und endlich dieselbe von seiner Geburt an bis zu dem Augenblicke fortzuführen, wo er, in der Vollkraft seines Mannesalters, im Stand ist ohne fremde Führung durch das Leben zu schreiten. Diese Methode halte ich für ganz besondersgeeignet, einen Schriftsteller, der seiner selber nicht ganz sicher ist, davon zurückzuhalten, sich in utopistische Träumereien zu verlieren; denn sobald er von der herkömmlichen Erziehungsweise abweicht, braucht er nur die seinige an seinem Zöglinge der Probe zu unterwerfen. Dann wird er, oder der Leser statt seiner, bald herausfühlen, ob er der stetigen Entwickelung der Kindheit und dem natürlichen Gange des menschlichen Herzens folgt.
Und das zu thun bin ich unter allen Schwierigkeiten, die sich mir entgegenstellten, aufrichtig bestrebt gewesen. Um mein Buch nicht unnützerweise noch umfangreicher zu machen, habe ich mich damit begnügt, diejenigen Grundsätze aufzustellen, deren Wahrheit unanfechtbar ist. Was dagegen die Regeln anlangt, die noch erst des Beweises bedürfen, so habe ich sie alle auf meinen Emil oder auf andere Beispiele angewandt und die Ausführbarkeit meiner Behauptungen an Einzelheiten weitläufig nachgewiesen. Diesen Plan habe ich mich wenigstens inne zu halten bemüht, in wie weit es mir gelungen ist, möge der Leser selbst beurtheilen.
Der Grund, weshalb ich anfangs wenig von Emil gesprochen habe, liegt darin, daß meine Hauptgrundsätze der Erziehung, in so schroffem Gegensatze sie auch zu den jetzt giltigen stehen, so klar überzeugend sind, daß ihnen schwerlich ein vernünftiger Mensch seine Zustimmung wird versagen können. Allein je weiter mein Werk fortschreitet, desto unähnlicher wird mein Zögling, der ja ganz anders als die einigen geleitet ist, einem gewöhnlichen Kinde: er bedarf einer ganz besonderen, nur für ihn bestimmten Leitung. Fortan erscheint er aber häufiger auf dem Schauplatze und zuletzt verliere ich ihn auch nicht einen einzigen Augenblick aus dem Gesicht, bis er schließlich, was er auch dazu sagen möge, meiner nicht im Geringsten mehr bedarf.
Ich will hier nicht von den Eigenschaften eines guten Erziehers reden: ich setze sie stillschweigend voraus, so wie, daß ich mich ihres Besitzes zu erfreuen habe. Der Leser dieses Werkes wird sehen, mit welcher Freigebigkeit ich mich bedacht habe.
Der allgemeinen Ansicht entgegen will ich mir nur dieeinzige Bemerkung erlauben, daß der Erzieher eines Kindes jung, und sogar so jung sein muß, als ein verständiger Mann nur immer sein kann. Ich wünschte, daß er womöglich selbst ein Kind wäre, daß er der Kamerad seines Zöglings werden und sich durch Theilnahme an seinen Spielen und Belustigungen sein Vertrauen erwerben könnte. Die Kindheit und das reife Alter haben zu wenig Gemeinsames, als daß sich bei diesem Abstande je eine echte und innige Zuneigung entwickeln kann. Die Kinder sind wol gegen Greise bisweilen zärtlich, nie werden sie dieselben aber lieben. [19]
Man pflegt den Wunsch zu hegen, daß ein Erzieher schon früher eine Erziehung geleitet habe. Allein das ist zu viel; ein und derselbe Mensch kann nur eine einzige Erziehung übernehmen; bedürfte es, um zu einem glücklichen Resultate zu kommen, erst der Erfahrungen einer früheren, mit welchem Rechte würde man die erste zu übernehmen wagen?
Im Besitze einer größeren Erfahrung würde man es freilich besser anzugreifen verstehen, aber man würde sein reicheres Wissen gar nicht mehr verwerthen können. Wer sich einmal dieser Mühwaltung mit solcher Hingebung unterzogen hat, daß er alle Lasten und Beschwerden derselben empfunden hat, der läßt sich zur Uebernahme dieses Amtes gewiß nicht zum zweiten Male gewinnen, und hat er das erste Mal keine günstigen Erfolge erzielt, so ist das ein schlimmes Vorzeichen für das zweite Mal.
Es ist ein gewaltiger Unterschied, das will ich gern einräumen, einen jungen Menschen vier Jahre lang unter Augen zu haben oder ihn fünfundzwanzig Jahre lang zu leiten. Ihr überlasset euren Sohn erst dann einem Erzieher, wenn seine Entwicklung schon eine bestimmte Richtung angenommen hat; ich dagegen will ihm einen schon vor seiner Geburt geben. Euer Erzieher kann alle paar Jahre einen neuen Schüler erhalten; der meinige wird nie mehr als einen haben. Ihr macht zwischen Lehrer undErzieher einen Unterschied: eine neue Thorheit. Macht ihr denn etwa zwischen Schüler und Zögling einen Unterschied? In einer einzigen Wissenschaft braucht man die Kinder
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