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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Fehler offen zur Schau trägt, so erfüllt uns ein solcher Anblick mit aufrichtiger Trauer über das menschliche Elend und die menschliche Verkehrtheit. Aber man täuscht sich: das ist lediglich der Mensch unserer Einbildung; der Mensch, wie er aus der Hand der Natur hervorgegangen ist, zeigt uns ein anderes Bild.
    Verlangt ihr nun, daß er seine ursprüngliche Form bewahre, so erhaltet sie gleich von dem Augenblicke an, wo er zur Welt kommt. Unmittelbar nach der Geburt müßt ihr euch seiner bemächtigen, und verzichtet ja auf seine Erziehung nicht, bevor er erwachsen ist. Wie die Mutter die eigentliche Amme ist, so ist der Vater der eigentliche Lehrer. Sie müssen in Bezug auf das Ineinandergreifen ihrer Thätigkeiten, so wie in Bezug auf das zu befolgende System in völligem Einverständnis sein; aus den Händen des Einen muß das Kind in die des Andern übergehen. Es wird von einem vernünftigen, wenn auch, was die Kenntnisse anlangt, etwas beschränkten Vater besser als von dem geschicktesten Lehrer der Welt erzogen werden, denn der Eifer wird das Talent eher als das Talent den Eifer ersetzen.
    Allein die leidigen Geschäfte, die amtlichen Obliegenheiten, die Pflichten – – – Ach, die Pflichten! Die Vaterpflicht ist also gewiß die allerletzte? [17]
    Es setzt unsdurchaus nicht in Erstaunen, daß ein Mann, dessen Frau es verschmäht hat, die Frucht ihrer Vereinigung zu nähren, es nun auch seinerseits verschmäht, dieselbe zu erziehen. Es gibt kein fesselnderes Bild als das der Familie; aber ein einziger häßlicher Zug entstellt alle übrigen. Wenn die Mutter sich mit Rücksicht auf ihre wankende Gesundheit außer Stande fühlt, ihren Kindern die Brust zu geben, so wird den Vater die Ueberlast von Geschäften abhalten, ihr Lehrer zu sein. Die Kinder, aus der Heimath entfernt, in Erziehungsanstalten, in Klöstern, in Schulen untergebracht, werden die Liebe zum väterlichen Hause auf Andere übertragen oder, um mich richtiger auszudrücken, ohne eine Spur von Anhänglichkeit und Zuneigung für irgend Jemand zurückkehren. Brüder und Schwestern werden sich kaum kennen. Bei besonderen feierlichen Zusammenkünften werden sie sich zwar mit ausgesuchtester Höflichkeit entgegenkommen, aber sich doch fremd gegenüberstehen. Sobald zwischen den Eltern keine aufrichtige Zuneigung mehr besteht, sobald der Familienkreis nicht mehr die Würze des Lebens ausmacht, muß man wol in lockren Sitten seinen Ersatz suchen. So geistesschwach ist gewiß Niemand, daß er nicht den logischen Zusammenhang aller dieser Uebelstände einsehen sollte!
    Durch Zeugung und Ernährung seiner Kinder kommt ein Vater nur dem dritten Theile der an ihn herantretenden Pflichten nach. Seinem Geschlechte schuldet er Menschen, der Gesellschaft schuldet er gesellige und umgängliche Menschen, dem Staate schuldet er Bürger. Wer diese dreifache Schuld abzutragen vermag und es nicht thut, macht sich schuldig und noch schuldiger vielleicht, wenner sie nur zur Hälfte abträgt. Wer die Pflichten eines Vaters nicht zu erfüllen vermag, hat auch kein Recht es zu sein. Keine Armuth, keine Arbeit, keine menschliche Rücksicht irgend welcher Art kann ihn davon lossprechen, seine Kinder zu ernähren und sie selbst zu erziehen. Schenket mir Glauben, liebe Leser! Ich sage es einem Jeden, der noch Gefühl hat und so heilige Pflichten verabsäumt, voraus, daß er seine Fehler lange bitterlich wird beweinen müssen, ohne je Trost zu finden. [18]
    Was thut nun aber dieser reiche Mann, dieser so mit Geschäften überladene Familienvater, daß er sich, wie er überall vorgibt, leider abgehalten sieht, seinen Kindern seine volle Fürsorge zu widmen? Er bezahlt einen andern Mann, um die Pflichten, die ihm selbst zu beschwerlich sind; zu übernehmen. Feile Seele! Bildest du dir ein, deinem Sohne für Geld einen zweiten Vater geben zu können? Täusche dich nicht; nicht einmal einen Lehrer gibst du ihm auf diese Weise, es ist nur ein Knecht. Bald wird er einen zweiten aus ihm machen.
    Man spricht viel über die Eigenschaften eines guten Erziehers. Als die erste und vornehmlichste, welche allein schon die Voraussetzung vieler andrer ist, würde ich verlangen, daß er kein bloßer Miethling ist. Es gibt Berufsarten, die so edel sind, daß man sich, wenn man sie zum Lohnerwerb herabwürdigt, ihrer unwerth macht: ein solcher ist der Beruf des Vaterlandsvertheidigers und eben so der des Erziehers. – Wer soll also mein Kind erziehen? – Ich habe es dir schon gesagt, du

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