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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ohne Vermittlung eines besonderen Arztes, denn sobald sie zusammen erscheinen, werden wir von den Irrthümern des Künstlers hundertmal mehr zu befürchten, als von seiner Kunst Hilfe zu hoffen haben. [20]
    Diese trügerische Kunst, die offenbar mehr gegen die Uebel des Geistes als gegen die des Körpers gerichtet ist, schafft gegen die einen eben so wenig Nutzen als gegen die andern; sie heilt uns weniger von unseren Krankheiten, als daß sie uns vielmehr Schrecken vor denselben einflößt; sie hält den Tod weniger auf, als daß sie uns denselben im Gegentheile schon im Voraus fühlen läßt; sie schwächt das Leben, anstatt es zu verlängern, und wenn sie es verlängerte, so würde selbst dies doch nur unserm Geschlechte zum Schaden gereichen, weil sie uns durch die stete Sorge für unser Wohl, zu der sie uns unablässig anspornt, der Gesellschaft entzieht, und durch die unaufhörliche Todesfurcht, in der sie uns erhält, uns von der Erfüllungunserer Pflichten abhält. Die Kenntniß der Gefahren flößt uns Furcht vor denselben ein; wer sich für unverwundbar hielte, würde vor nichts Furcht empfinden. Indem der Dichter den Achill gegen die Gefahr waffnet, raubt er ihm das Verdienst der Tapferkeit; um denselben Preis wäre jeder Andere an seiner Stelle ebenfalls ein Achill gewesen.
    Nur an den Orten kann man Männer von wahrem Muthe antreffen, wo es keine Aerzte gibt, wo man nicht fortwährend über die Gefahr der Krankheiten grübelt und nur wenig an den Tod denkt. Im Naturzustande versteht der Mensch standhaft zu leiden und ruhig zu sterben. Erst die Aerzte mit ihren Recepten, die Philosophen mit ihren Vorschriften, die Priester mit ihren Ermahnungen rauben ihm den Muth und lassen ihm keine Ruhe, bis er zu sterben verlernt.
    Entweder muß der Zögling, den man mir anvertraut, aller dieser Leute entbehren können, oder ich weise ihn zurück. Ich will nicht, daß mir Andere mein Werk verderben; entweder will ich ihn allein erziehen oder gar nichts mit ihm zu schaffen haben. Der gelehrte Locke, welcher sich eine lange Zeit dem Studium der Medicin gewidmet hatte, empfiehlt angelegentlich, den Kindern weder aus Vorsorge noch wegen leichter Unpäßlichkeit Arznei zu geben. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und erkläre hiermit, daß ich den Arzt, welchen ich meinetwegen so wie so niemals rufe, auch nie wegen meines Emils rufen werde, es müßte denn sein Leben in augenscheinlicher Gefahr schweben, denn dann kann er ihn schlimmsten Falls ja auch nur tödten.
    Ich weiß recht wohl, daß der Arzt nicht verfehlen wird, aus dieser scheinbaren Saumseligkeit Vortheil zu ziehen. Stirbt das Kind, nun, so hat man ihn zu spät gerufen; kommt es davon, so wird die Rettung sein Werk sein. Mag es sein: möge der Arzt einen Triumph feiern; aber vor allen Dingen werde er nur in der äußersten Gefahr gerufen.
    Das Kind muß, weil es ja doch nicht versteht, sich selbst zu heilen, zunächst lernen krank zu sein; diese Kunst ersetzt die erstere und führt oft weit glücklichere Erfolgeherbei, sie ist die Kunst der Natur. Ist das Thier krank, so leidet es still und verhält sich ruhig, und gleichwol sieht man nicht mehr sieche und kraftlose Thiere als Menschen. Wie viel Leute hat Ungeduld, Furcht, Aufregung und vor allen Dingen die Arznei getödtet, welche ihrer Krankheit sicher nicht erlegen wären, sondern durch die Zeit allein Heilung gefunden hätten. Man wird mir einwenden, daß die Thiere wegen ihrer naturgemäßeren Lebensweise auch weniger Leiden als wir unterworfen sein müssen. Sehr richtig, und darum will ich gerade diese Lebensweise meinem Zöglinge zur zweiten Natur machen; er wird den nämlichen Nutzen daraus ziehen.
    Der einzige wirklich nützliche Theil der Arzneiwissenschaft ist die Gesundheitslehre; überdies ist sie weniger eine Wissenschaft als eine Tugend. Mäßigkeit und Arbeit sind die beiden wahren Aerzte des Menschen: die Arbeit reizt den Appetit und die Mäßigkeit verhindert die mißbräuchliche Befriedigung desselben.
    Um mit Sicherheit festzustellen, welche Lebensweise dem Leben und der Gesundheit am meisten zusagt, braucht man nur zu erforschen, welche Lebensweise die Völker beobachten, welche am gesundesten und kräftigsten sind und es bis zum höchsten Alter bringen. Wenn sich durch die allgemeinen Beobachtungen nicht nachweisen läßt, daß die Ausübung der Arzneikunst dem Menschen eine festere Gesundheit und ein längeres Leben verleiht, so ist diese Kunst schon einfach in Folge des Umstands,

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