Emil oder Ueber die Erziehung
Fähigkeit versagt; ich verstehe mich nicht darauf, Jemanden leben zu lehren, der nur unaufhörlich darauf sinnt, den Tod von sich abzuwehren.
Der Körper muß notwendiger Weise Kraft besitzen, wenn er anders der Seele gehorchen soll; ein guter Diener muß stark sein. Ich weiß, daß die Unmäßigkeit die Leidenschaften weckt; auf die Länge schwächt sie auch den Körper; aber umgekehrt bringen auch Kasteiungen und Fasten durch entgegengesetzte Ursachen oft dieselbe Wirkung hervor. Je schwächer der Körper ist, desto gebieterischer tritt er auf; je stärker er ist, desto gehorsamer ist er. Alle sinnlichen Leidenschaften wohnen in verweichlichten Körpern; je weniger dieselben sie zu befriedigen vermögen, desto mehr leiden sie unter ihren Einflüssen.
Ein kraftloser Körper schwächt auch die Seele. Daher entspringt die Herrschaft der Arzneikunst, einer Kunst, welche den Menschen jedenfalls gefährlicher ist als alle Uebel, die sie sich zu heilen rühmt. Ich meinestheils kenne wenigstens die Krankheit nicht, von welcher uns die Aerzte zu heilen vermögen; so viel aber weiß ich, daß sie die Schuld an den unheilvollsten Leiden tragen, welche die Menschheit beunruhigen, nämlich an der Feigheit, dem Kleinmuthe, der Leichtgläubigkeit und der Furcht vor dem Tode; während sie den Körper heilen, ertödten sie den Muth. Was kann es darauf ankommen, wenn sie doch nur wandelnden Leichnamen scheinbares Leben einhauchen? Menschen sinduns nöthig, aber solche sieht man aus ihren Händen nicht hervorgehen.
Das Mediciniren ist unter uns Mode geworden, und das kann nicht anders sein. Es gehört zu dem Zeitvertreibe geschäftsloser Müßiggänger, welche nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen und sie deshalb nur in der Sorge für ihre leibliche Erhaltung vergeuden. Hätten sie das Glück gehabt, als Unsterbliche in die Welt zu treten, so würden sie die elendesten Wesen sein. Ein Leben, dessen Verlust sie nie zu befürchten brauchten, würde ihnen werthlos erscheinen. Dergleichen Leute müssen durchaus Aerzte haben, die ihnen den Gefallen thun, sie in ewiger Todesfurcht zu erhalten, und die ihnen täglich das einzige Vergnügen, für das sie noch empfänglich sind, bereiten, das Vergnügen, noch nicht gestorben zu sein.
Es liegt nicht in meiner Absicht, mich hier weitläufig über die Nichtigkeit der Arzneikunst zu verbreiten. Mein Zweck ist nur, sie von der sittlichen Seite zu betrachten. Gleichwol kann ich die Bemerkung nicht zurückhalten, daß sich die Menschen über ihren Nutzen genau denselben Trugschlüssen hingeben, wie über die Erforschung der Wahrheit. Sie gehen beständig von der Voraussetzung aus, daß der Kranke, welcher sich in ärztlicher Behandlung befindet, auch Heilung erhält, und daß das Suchen nach der Wahrheit auch zum Finden führt. Sie wollen nicht begreifen, daß man den Vortheil einer Heilung, welche man wirklich einmal dem Arzte zu verdanken hat, gegen den Tod von hundert Kranken, welchen er auf dem Gewissen hat, und den Nutzen einer neuentdeckten Wahrheit gegen den offenbaren Schaden abwägen muß, welchen die sich stets gleichzeitig daran knüpfenden Irrthümer hervorrufen. Die Wissenschaft, welche unterrichtet und die Arzneikunst, welche heilt, sind unzweifelhaft sehr nützlich; aber die Wissenschaft, welche uns Täuschungen aussetzt, und die Kunst, welche den Tod herbeiführt, sind schädlich. Könnte man uns wenigstens den Nachweis führen, wie sie sich unterscheiden lassen. Das ist die Hauptschwierigkeit. Wenn wir nicht so lüstern darauf wären, beständig neue Wahrheiten zu entdecken, so würden wir uns nicht so oft von der Lüge hinterdas Licht führen lassen; wenn wir nicht darauf ausgingen, gegen die Natur Genesung zu suchen, so würden wir niemals unter den Händen des Arztes sterben. Jedenfalls würde es Klugheit verrathen, in diesen beiden Punkten eine gewisse Entsagung zu beobachten; durch Unterwerfung unter die Gesetze der Natur würde man augenscheinlich gewinnen. Ich bestreite also keineswegs, daß nicht die Arzneikunst einzelnen Menschen vorteilhaft sein könne, aber das behaupte ich entschieden, daß sie dem menschlichen Geschlechte im Allgemeinen unheilvoll ist.
Man wird mir, wie man ja nicht müde wird unaufhörlich zu thun, den Einwand machen, daß die begangenen Fehler lediglich den einzelnen Aerzten zur Last gelegt werden müssen, daß indeß die Arzneikunst an sich untrüglich sei. Ist dies in der That der Fall, dann nahe sie sich wenigstens den Kranken
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