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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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herkömmliche Manieren nachzuahmen und Gefühle zu heucheln, die er nicht hat. Aber darum handelt es sich hier auch gar nicht. Ich weiß nur, daß er liebreicher sein wird, und es kommt mir schwer an, zu glauben, daß derjenige, der nur sich liebt, sich in so hohem Grade sollte verstellen können, daß er einen eben so angenehmen Eindruck hervorbrächte wie derjenige, welcher inseiner Liebe zu Anderen nur eine Steigerung des Gefühls seines Glückes findet. Was aber dies Gefühl selbst anlangt, so denke ich mich darüber hinreichend ausgesprochen zu haben, um die Aufmerksamkeit eines verständigen Lesers auf diesen Punkt zu richten und den Beweis zu liefern, daß ich mir nicht widersprochen habe.
    Ich komme also auf meine Methode zurück und sage: Wenn das kritische Alter herannaht, so lasset die jungen Leute nur solche Dinge sehen, die geeignet sind, sie zurückzuhalten, nicht aber solche, die aufregend auf sie wirken. Gebt ihrer Einbildungskraft keine Nahrung und beschäftigt sie deshalb nur mit Dingen, die die Sinnlichkeit nicht entflammen, sondern die Thätigkeit derselben zurückhalten. Entfernt sie aus den großen Städten, wo der Putz und die unzüchtige Aufdringlichkeit der Frauen die Unterweisungen der Natur beschleunigt und ihnen zuvorkommt, wo Alles ihren Augen Vergnügungen ausmalt, die sie nicht eher kennen lernen sollen, als bis sie im Stande sind, eine richtige Auswahl unter ihnen zu treffen. Bringt sie in ihre früheste Heimat zurück, wo die ländliche Einfachheit eine weniger schnelle Entwicklung der Leidenschaften ihres Alters zuläßt. Sollte sie jedoch ihre Liebe zu den Künsten auch ferner an die Stadt fesseln, so wendet diese Liebe als Mittel an, sie von einem gefährlichen Müßiggange fern zu halten. Verwendet die größte Sorgfalt auf die Wahl ihres Gesellschaftskreises, ihrer Beschäftigungen und Vergnügungen. Laßt sie nur den Anblick rührender, aber züchtiger Bilder genießen, welche sie ergreifen, ohne sie zu verführen, welche ihr Gefühl anfachen, ohne ihre Sinnlichkeit aufzuregen. Bedenket übrigens, daß überall Uebertreibungen zu befürchten sind, und daß maßlose Gemüthserregungen stets mehr Unheil stiften, als man dadurch zu verhüten vermag. Es handelt sich nicht darum, aus eurem Zögling einen Krankenwärter, einen barmherzigen Bruder zu machen, seine Augen durch den fortwährenden Anblick von Leiden und Schmerzen zu verletzen, ihn von Krankenbett zu Krankenbett, von Hospital zu Hospital, vom Richtplatz in die Gefängnisse zu schleppen. Der Anblick des menschlichen Elends soll einen wohlthätigenEinfluß auf ihn ausüben, ihn aber nicht verhärten. Tritt uns lange Zeit immer nur derselbe Anblick entgegen, so werden wir endlich gegen die Eindrücke desselben unempfindlich. Mit der Zeit gewöhnt man sich an Alles. Ein zu häufig wiederkehrender Anblick beschäftigt unsere Einbildungskraft nicht mehr, und doch ist diese es allein, welche uns fremdes Leid mitfühlen läßt. In Folge ihrer öfteren Anwesenheit bei dem Todeskampfe und den Leiden Anderer verlieren Geistliche und Aerzte allmählich alles Mitgefühl. Euer Zögling lerne deshalb das menschliche Loos und das Elend seiner Mitmenschen kennen, aber er darf nicht allzu oft Zeuge desselben sein. Ein einziger Gegenstand wird, wenn er gut gewählt ist und ihm in dem rechten Augenblicke gezeigt wird, ihn einen Monat lang aufregen und zu ernsten Betrachtungen veranlassen. Nicht sowol der gehabte Anblick selbst, als vielmehr die Rückerinnerung an das, was er gesehen hat, liegt dem Urtheile zu Grunde, welches er darüber fällt, und den bleibenden Eindruck, den er von einem Gegenstände empfängt, verdankt er weniger dem Gegenstande selbst, als dem Gesichtspunkte, unter welchem er Veranlassung, findet, sich desselben zu erinnern. So werdet ihr, wenn ihr euch auf wenige Beispiele, Lehren und Bilder beschränkt, den Stachel der Sinnlichkeit auf lange Zeit abstumpfen, und dadurch, daß ihr der von der Natur selbst eingeschlagenen Richtung folgt, sie von allen Irrwegen ablenken.
    Nach Maßgabe der Einsichten, welche sich euer Zögling erworben hat, wählt nun auch solche Begriffe aus, welche sich auf dieselben beziehen, und in dem Maße, als sich seine Begierden entzünden, wählt Bilder, die geeignet sind, sie niederzuhalten. Ein alter Soldat, der sich in gleich hohem Grade durch die Reinheit seines Wandels wie durch seinen Muth auszeichnete, erzählte mir einst, wie sein Vater, ein sehr verständiger, aber auch sehr frommer

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