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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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durch zwei gerade entgegengesetzte Thore in die Welt eintreten. Der Eine steigt plötzlich zum Olymp empor und bewegt sich in der glänzendsten Gesellschaft. Man führt ihn bei Hofe, bei den Großen, bei den Reichen, bei schönen Frauen ein. Ich setze voraus, daß er überall eine gute Aufnahme findet, und untersuche zunächst nicht die Wirkung derselben auf seine Vernunft; ich nehme an, daß sie ihr Widerstand leistet. Von einem Vergnügen stiegt er zu dem andern, jeder Tag bietet ihm neue Freuden dar. Jeder Lust gibt er sich mit einem Interesse hin, das euch irre leitet. Ihr nehmt wahr, wie aufmerksam, eifrig und lüstern nach immer neuen Lustbarkeiten er ist. Seine anfängliche Verwunderung fällt euch auf; ihr haltet ihn für zufrieden. Aber werfet nur einenBlick in seinen Seelenzustand! Ihr glaubt, daß er Genuß hat, ich dagegen bin der Ansicht, daß er leidet.
    Was nimmt er zunächst wahr, sobald ihm die Augen aufgehen? Eine Menge vermeintlicher Güter, die er zuvor nicht kannte, und von denen die meisten, da sie sich seinen Blicken nur auf einen Augenblick darbieten, sich ihm nur zu zeigen scheinen, um ihm nachher den Schmerz über ihren Verlust desto fühlbarer zu machen. Durchwandelt er einen Palast, so verräth euch seine unruhige Neugier, daß er sich im Stillen die Frage vorlegt, weshalb sein väterliches Haus nicht die gleiche Pracht aufzuweisen habe. Alle seine Fragen lassen durchblicken, daß er sich unablässig mit dem Herrn dieses Hauses vergleicht, und Alles, was er Demüthigendes für sich bei dieser Parallele entdeckt, erhöht seine Eitelkeit durch die ihr zugefügte Kränkung. Begegnet er einem jungen Manne, der besser gekleidet ist als er, so kann ich sehen, wie er im Geheimen über den Geiz seiner Eltern murrt. Ist er dagegen kostbarer gekleidet als ein Anderer, so erfüllt es ihn mit Schmerz, zu sehen, wie dieser ihn entweder durch Geburt oder Geist verdunkelt, und wie all seine Vergoldung von einem einfachen Tuchgewande in Schatten gestellt wird. Glänzt er allein in einer Gesellschaft, erhebt er sich auf der Fußspitze, um besser gesehen zu werden, wer fühlte sich da wol nicht von einer geheimen Lust beseelt, dem jungen Laffen für sein stolzes und selbstgefälliges Wesen die gebührende Züchtigung angedeihen zu lassen? Wie auf Verabredung vereinigt sich alsbald Alles gegen ihn. Unablässig verfolgen ihn die beunruhigenden Blicke eines ernsten Mannes, rings um sich her vernimmt er die beißenden Bemerkungen eines Spötters, und ruht auch nur die Verachtung eines Einzigen auf ihm, so vergiftet ihm die verächtliche Behandlung dieses Einzigen die Beifallsbezeugungen aller Uebrigen.
    Wir wollen ihn mit allen Vorzügen ausstatten, mit verschwenderischer Hand soll ihm die Natur alle Reize der Anmuth, alle Schätze des Geistes verliehen haben; er soll wohlgebildet, geistreich und liebenswürdig sein. Dann wird es nicht ausbleiben, daß sich die Frauen um ihn bemühen.Buhlen sie jedoch um seine Gunst, ehe er sie liebt, so werden sie weit eher einen Narren als einen Liebhaber aus ihm machen. Er wird bei ihnen Glück haben, aber die zum Genusse unentbehrliche stürmische Leidenschaft wird ihm fehlen. Da man seinen Wünschen beständig zuvorkommt und ihnen niemals Zeit läßt, inmitten von all den Vergnügungen sich von selbst zu bilden, so wird er über den ihm auferlegten Zwang nur Verdruß empfinden. Das Geschlecht, welches zur Beglückung des seinigen bestimmt ist, erfüllt ihn mit Ekel und Uebersättigung, noch bevor er es kennt. Wenn er trotzdem den Umgang mit demselben nicht aufgibt, so geschieht es nur aus Eitelkeit; und wenn er auch eine wirkliche Neigung zu ihm faßte, so wird er doch nicht ausschließlich Anspruch auf Jugend, Glanz und Liebenswürdigkeit machen können, und deshalb in seinen Geliebten nicht immer Wunder der Treue finden.
    Ich will gar nicht von den Neckereien, Verräthereien, Abscheulichkeiten, von der immer von Neuem erwachenden Reue reden, die von einem solchen Leben unzertrennlich sind. Die Erfahrungen, die wir im Verkehre mit der Welt machen, verleiden sie uns; das ist eine anerkannte Thatsache. Ich rede hier nur von dem Kummer, der mit der ersten Täuschung verbunden ist.
    Welch ein Contrast erwartet denjenigen, welcher bisher auf den Kreis seiner Familie und seiner Freunde eingeschränkt gewesen ist und sich als den einzigen Gegenstand aller ihrer Zuvorkommenheit erblickt hat, wenn er nun plötzlich in eine Ordnung der Dinge eintritt, in der er eine so geringe

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