Emil oder Ueber die Erziehung
Herzen. Rauschende Spiele, ausgelassene Freude bergen Ekel und Ueberdruß in sich. Melancholie dagegen ist die Freundin einer reinen Freude. Rührung und Thränen begleiten die süßesten Genüsse und selbst der höchste Grad des Entzückens entlockt uns eher Thränen als Lachen.
Wenn es auch Anfangs den Anschein hat, als ob die Menge und Mannigfaltigkeit der Lustbarkeiten zum Glücke beitrüge, die Einförmigkeit eines geregelten und gleichmäßigen Lebens dagegen Langeweile hervorrufen müßte, so findet man gleichwol bei näherer Betrachtung, daß dersüßeste Seelenzustand auf einem Maßhalten im Genusse beruht, welches weder Begierde noch Ueberdruß entstehen läßt. Die Unruhe der Begierden stachelt zu immer neuen Genüssen an, ruft Unbeständigkeit hervor, die Leere rauschender Vergnügungen erzeugt Langeweile. Wir werden unsern Zustand jedoch niemals langweilig finden, so lange wir keinen angenehmeren kennen. Von allen Menschen in der ganzen Welt tragen die Wilden am wenigsten Verlangen nach neuen Genüssen und fühlen sich am wenigsten gelangweilt. Alles ist ihnen gleichgiltig. Sie suchen ihren Genuß nicht in den Dingen, sondern in sich selbst. Sie verbringen ihr Leben mit Nichtsthun und langweilen sich dabei nie.
Der Weltmann erscheint immer in fremder Maske. Da sich seine Gedanken fast nie mit ihm selbst beschäftigen, so ist er sich stets fremd und fühlt sich unangenehm berührt, sobald er zur Einkehr in sich gezwungen ist. Was er ist, bedeutet in seinen Augen nichts, der Schein gilt ihm Alles.
Es ist mir nicht möglich, mir jenen jungen Mann, von dem ich oben sprach, anders als mit einem gewissen frechen, süßlichen und affectirten Zuge im Gesichte vorzustellen, welcher Mißfallen erregen und schlichte Leute abstoßen muß. Mein Zögling dagegen zeichnet sich nach meiner Vorstellung durch ein interessantes und einfaches Antlitz aus, auf welchem sich innere Zufriedenheit und wahre Heiterkeit der Seele abspiegelt, welches Achtung und Vertrauen einflößt und nur auf den Erguß der Freundschaft zu warten scheint, um denen, die ihm nahe treten, die seinige zu schenken. Man wähnt, daß die Gesichtsbildung nichts als die Entwickelung der von der Natur schon von Anbeginn an vorgezeichneten Züge sei. Ich dagegen bin der Ansicht, daß außer dieser Entwickelung die Gesichtszüge eines Menschen sich noch durch die wiederholentliche und gewohnheitsmäßige Einwirkung gewisser Seelenzustände unmerklich herausbilden und dadurch erst eine bestimmte Physiognomie annehmen. Nichts ist gewisser, als daß sich diese Seelenzustände auf dem Gesichte abspiegeln, und sobald sie zur Gewohnheit geworden sind, bleibende Eindrücke auf demselben zurücklassen müssen.Hierin liegt die Berechtigung für meine Behauptung, daß die Physiognomie den Charakter zu erkennen gibt und daß man bisweilen von dem Einen auf das Andere schließen kann, ohne erst geheimnißvolle Erklärungen zu Hilfe zu nehmen, welche Kenntnisse voraussetzen, die wir nicht besitzen.
Ein Kind hat nur zwei deutlich ausgeprägte Seelenzustände: Freude und Schmerz; es lacht oder weint; die dazwischen liegenden Abstufungen kennt es nicht. Unaufhörlich geht es von einer dieser Erregungen zur andern über. Dieser beständige Wechsel tritt der Bildung eines bleibenden Eindrucks auf seinem Gesichte und dadurch der Ausprägung einer bestimmten Physiognomie hinderlich entgegen. In dem Alter dagegen, wo es für Eindrücke empfänglicher geworden ist und lebhafter und dauernder erregt wird, lassen die tieferen Eindrücke auch schwerer zu verwischende Spuren zurück, und seinem gewohnten Seelenzustande verdanken seine Gesichtszüge einen Charakter, welchen die Zeit unauslöschbar macht. Man kann indeß gar nicht selten die Beobachtung machen, daß Menschen auf verschiedenen Altersstufen ihren Gesichtsausdruck ändern. Ich selbst habe mehrfach diese Erfahrung gemacht, und mich, wenigstens bei denjenigen, die ich genau beobachten und verfolgen konnte, stets überzeugt, daß dann auch in ihren gewohnten Neigungen ein Wechsel eingetreten war. Schon diese Beobachtung allein scheint mir, wenn sie hinreichende Bestätigung findet, entscheidend und in einer Abhandlung über Erziehung, wo es darauf ankommt, sich ein richtiges Urtheil über die Vorgänge in der Seele nach den äußeren Kennzeichen zu bilden, nicht am unrechten Orte zu sein.
Ich weiß nicht, ob der von mir erzogene junge Mann deshalb weniger liebenswürdig sein wird, weil er die Kunst nicht erlernt hat,
Weitere Kostenlose Bücher