Emil oder Ueber die Erziehung
weshalb die Völker, welche sich durch Reinheit der Sitten auszeichnen, gewöhnlich solche, welche lockere Sitten haben, an gesunder Vernunft und an Muth übertreffen. Letztereglänzen einzig und allein durch gewisse kleinliche, den Charakter der Verschmitztheit an sich tragende Eigenschaften, die sie Witz, Scharfsinn, Feinheit nennen; aber jene großen und edelen Erweisungen der Weisheit und Vernunft, die den Menschen durch schöne Handlungen, durch Tugenden und durch wahrhaft nützliche Bestrebungen auszeichnen und ehren, finden sich sicherlich nur bei den Ersteren.
Die Lehrer pflegen die Klage zu erheben, daß das diesem Alter eigene Feuer die Jugend unlenksam mache, und ich habe mich durch den Augenschein davon überführt. Aber liegt die Schuld nicht in ihnen selbst? Sollten sie nicht wissen, daß man diesem Feuer, sobald es einmal die Sinnlichkeit in Flammen gesetzt hat, niemals eine andere Richtung zu geben vermag? Werden etwa die langen und frostigen Predigten eines Pedanten in dem Geiste seines Zöglings das Bild der Freuden, die er genossen hat, wieder verwischen? Werden sie aus seinem Herzen die Lüste verbannen, die es quälen? Werden sie die Glut einer Sinnlichkeit ersticken, deren Anwendung ihm schon bekannt ist? Wird sich nicht sein ganzer Zorn gegen die Hindernisse kehren, welche sich dem einzigen Glücke, von dem er eine Vorstellung hat, entgegenstellen? Und was wird er in dem harten Gesetze, welches man ihm vorschreibt, ohne es ihm gleichzeitig zum Verständniß bringen zu können, anders erblicken, als die Laune und den Haß eines Mannes, der darauf ausgeht, ihn zu peinigen? Ist es so seltsam, daß er sich dagegen auflehnt und ihn nun von ganzem Herzen haßt?
Ich sehe sehr wohl ein, daß man sich durch Nachsicht weniger widerwärtig machen und eine scheinbare Autorität bewahren kann. Aber mir fehlt völlig das Verständniß, welchen Nutzen eine Autorität schafft, welche man über seinen Zögling nur dadurch zu bewahren vermag, daß man die Laster, die sie unterdrücken sollte, groß zieht? Das ist genau dasselbe, als wenn ein Reiter ein unbändiges Roß, um es zu bändigen, in einen Abgrund springen ließe.
Weit davon entfernt, daß dieses jugendliche Feuer ein Hinderniß der Erziehung sei, trägt es vielmehr zur Vollendung und Beendigung derselben bei; es verleiht euchGewalt über das Herz eines Jünglings, sobald er aufhört weniger stark zu sein als ihr. Die ersten Aeußerungen seiner Leidenschaft bilden die Zügel, an denen ihr alle seine Regungen zu lenken vermögt; er war frei, jetzt aber sehe ich ihn unterworfen. So lange er noch nichts liebte, hing er nur von sich selbst und seinen Bedürfnissen ab; sobald er jedoch liebt, ist er von den Gegenständen seiner Liebe abhängig. Auf diese Weise bilden sich die ersten Bande, die ihn an das menschliche Geschlecht fesseln. Gebet euch indeß, wenn ihr euch bemüht, seine erwachende Liebe auf dasselbe zu lenken, nicht dem Wahne hin, als ob sie sofort alle Menschen umfassen und der Ausdruck »Menschengeschlecht« irgend eine Bedeutung für ihn haben werde. Nein, diese Liebe wird sich anfänglich auf seines Gleichen beschränken, und als seines Gleichen wird er nicht Unbekannte, sondern nur Solche anerkennen, mit denen er in freundschaftlichen Verhältnissen steht, Solche, welche ihm Gewohnheit lieb oder nothwendig gemacht hat, Solche, an denen er augenscheinlich bemerkt, daß sie seine ganze Anschauungs- und Empfindungsweise theilen, Solche, die er denselben Leiden ausgesetzt sieht, die er selbst erduldet, und die für dieselben Freuden empfänglich sind, an denen er seine Lust gehabt hat, mit einem Worte Solche, deren völlige Uebereinstimmung mit seiner Natur ihn mit der größten Zuneigung zu ihnen erfüllt. Erst nach allseitiger Ausbildung seines Naturells, nach vielfältigen Reflexionen über seine eigenen und an Anderen beobachteten Empfindungen, wird er sich so weit emporschwingen, seine individuellen Vorstellungen zu dem abstracten Begriffe der Menschheit zu verallgemeinern und seinen persönlichen Neigungen noch diejenigen anzureihen, die ihn mit seiner Gattung in jeder Beziehung in Uebereinstimmung zu setzen vermögen.
Von dem Augenblicke an, wo er der eigenen Zuneigung fähig wird, wird er auch für die ihm entgegenkommende Liebe Anderer empfänglich [5] und in Folge dessenauf die Zeichen derselben aufmerksam. Begreift ihr, welche neue Herrschaft ihr dadurch über ihn erlangen werdet? Mit welchen Fesseln habt ihr sein Herz
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