Emil oder Ueber die Erziehung
Beachtung findet, wenn er sich in einer ihm fremden Sphäre wie verloren vorkommt, der so lange den Mittelpunkt der seinigen bildete! Welche Kränkungen, welche Demüthigungen wird er nicht erdulden müssen, bevor sich in der ihm fremden Welt das Vorurtheil von seiner Wichtigkeit wieder verliert, welches im Kreise der Seinigen in ihm erweckt und genährt wurde. So lange er Kind war, fügte sich Alles seinem Willen, bemühte sich Alles um ihn. Jetzt, wo er ein Jüngling ist, muß er sich in eines Jeden Willen schicken. Vergißt er sich jedoch und behält er sein altes Wesen bei, welche harte Lehren werdenihn dann zwingen, in sich zu gehen! Daran gewöhnt, alle Gegenstände seiner Wünsche leicht zu erhalten, hat er seinen Wünschen einen stets größeren Umfang gegeben und bleibt in Folge dessen fortwährend das Gefühl in ihm wach, wie viel er noch entbehren muß; Alles, was ihm Freude macht, lockt ihn an; Alles, was Andere haben, möchte er auch haben: er trägt nach Allem Gelüste, beneidet Alle und möchte überall den Herrn spielen. Die Eitelkeit verzehrt ihn, die Glut zügelloser Begierden entflammt sein junges Herz. Mit ihnen erwachen Eifersucht und Haß; alle verzehrenden Leidenschaften lodern auf einmal in ihm empor. Mitten im Geräusch der Welt verläßt ihn ihre Aufregung nicht, und jeden Abend bringt er sie wieder heim. Mit sich und aller Welt unzufrieden, tritt er wieder über seine Schwelle. Voll von tausend eitlen Plänen, beunruhigt von tausend sorgenvollen Gedanken, schläft er endlich ein, und noch in seinen Träumen malt ihm sein Stolz die eingebildeten Güter aus, deren Erlangung er so schmerzlich ersehnt und die er doch nie in seinem Leben besitzen wird. Erkennet in diesen Zügen eueren Zögling. Jetzt laßt uns den meinigen betrachten.
Wenn der erste Anblick, der sich ihm darbietet, ein trauriger ist, so ist gleichwol die erste Wirkung desselben auf ihn ein freudiges Gefühl. Indem er sich bewußt wird, von wie vielen Nebeln er frei ist, fühlt er sich glücklicher als er zu sein meinte. Er nimmt an den Leiden seiner Mitmenschen Antheil, allein diese Theilnahme ist freiwillig und süß. Er hat einen doppelten Genuß: mit dem angenehmen Gefühl, Mitleid mit den Leiden Anderer zu empfinden, verbindet er gleichzeitig die Freude, sich von denselben frei zu wissen. Er fühlt sich auf jenem Höhepunkte der Kraft, wo sich dieselbe nicht an ihrem Wirkungskreise in uns genügen läßt, sondern uns anspornt, die Thätigkeit, welche nicht von unserm eigenen Wohlsein in Anspruch genommen wird, nach Außen hin zu richten. Um fremdes Leid bedauern zu können, muß man es allerdings kennen, braucht es jedoch nicht zu fühlen. Hat man gelitten oder hegt man Besorgniß leiden zu müssen, so bedauert man diejenigen, welche leiden; so lange man indeß selbst leidet,bedauert man nur sich. Da wir nun Alle den Leiden des Lebens unterworfen sind und Jeder den Anderen nur so viel Theilnahme schenkt, als er für sich selbst gerade nicht bedarf, so ergibt sich daraus, daß das Mitleid ein außerordentlich süßes Gefühl sein muß, da es in beredter Weise unserer Ueberzeugung, daß wir uns in einer günstigeren Lage befinden, Ausdruck verleiht, und daß dagegen ein harter Mensch stets unglücklich sein wird, weil sein Herz so vollauf mit sich selbst beschäftigt ist, daß ihm kein Überschuß von Theilnahme übrig bleibt, welchen er den Leiden Anderer widmen könnte.
Wir lassen uns in unserem Urtheile über das Glück leider in zu hohem Grade von dem äußeren Scheine leiten. Wir verlegen es in unserem Geiste dorthin, wo es am wenigsten zu finden ist, wir suchen es, wo es nimmer eine Stätte finden kann; Fröhlichkeit ist nur ein höchst zweideutiges Zeichen derselben. Häufig verbirgt sich unter einer heiteren Außenseite nur ein Unglücklicher, der Andere zu täuschen und sich selbst zu betäuben sucht. Solche Leute, die in Gesellschaft so lustig, so zugänglich, so heiter sind, zeigen daheim fast Alle ein finsteres und mürrisches Wesen und an ihren Dienstleuten lassen sie ihren Aerger über die Mühe aus, welche ihnen das ihren Gesellschaften bereitete Vergnügen gekostet hat. Die wahre Zufriedenheit ist weder lustig noch ausgelassen; eifersüchtig auf ein so süßes Gefühl, sucht man es recht zu genießen und bleibt sich desselben auch beim Genüsse stets bewußt; man ist besorgt, es könnte entfliehen. Ein wahrhaft glücklicher Mensch spricht und lacht wenig; er verschließt sein Glück gleichsam in seinem
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