Emil oder Ueber die Erziehung
umschlungen, ehe er es gewahr wurde! Welche Gefühle werden sich seiner nicht bemächtigen, wenn ihm erst die Augen über sich selbst aufzugehen beginnen und er nun mit einem Male sehen wird, was ihr für ihn gethan habt; wenn er erst im Stande sein wird, sich mit anderen jungen Leuten seines Alters und euch mit anderen Erziehern zu vergleichen! Ich sage ausdrücklich: Wenn er es sehen wird! Hütet euch aber wohl, ihn darauf aufmerksam zu machen; wenn ihr es ihm sagt, wird er es nicht mehr wahrnehmen. Verlangt ihr von ihm als eine Art Vergeltung für die Mühe, die ihr euch mit ihm gegeben habt, Gehorsam, so wird er sich einbilden, ihr wolltet denselben durch List von ihm erzwingen; er wird sich einreden, ihr hättet euch nur gestellt, ihm ohne allen Anspruch auf Dank einen Dienst zu leisten, in Wahrheit hättet ihr jedoch die Absicht gehabt, ihn mit einer Schuld zu beladen und durch einen Vertrag zu binden, zu welchem er in keiner Weise seine Zustimmung gegeben habe. Umsonst werdet ihr hinzufügen, daß ja das, was ihr von ihm verlangt, nur zu seinem Besten diene; ihr verlangt einmal, und verlangt kraft dessen, was ihr ohne seine Zustimmung gethan habt. Wenn ein Unglücklicher das Geld annimmt, mit dem man ihm ein Geschenk zu machen vorgibt, und dadurch wider seinen Willen angeworben wird, so schreit ihr über Ungerechtigkeit; seid ihr aber nicht noch viel ungerechter, wenn ihr von eurem Zöglinge den Lohn für eine Sorgfalt fordert, die er gar nicht von euch verlangt hat?
Die Undankbarkeit würde viel seltener sein, wenn die Wohlthaten auf Wucher nicht so allgemein wären. Es ist ein so natürliches Gefühl, daß man den liebt, welcher uns Gutes erweist. Die Undankbarkeit findet sich nicht im menschlichen Herzen, wohl aber der Eigennutz. Esgibt weniger Undankbare, die eine Ursache zum Danke haben, als eigennützige Wohlthäter. [6] Sagt ihr offen, daß ihr mir eure Liebesgaben verkauft, so werde ich um den Preis feilschen. Stellt ihr euch aber, als machtet ihr ein wirkliches Geschenk, um nachher trotzdem einen euch beliebigen Preis darauf zu setzen, so übt ihr Betrug. Nur das Geschenk, bei dem man keinen Anspruch auf Dank erhebt, ist unschätzbar. Das Herz nimmt nur die Gesetze an, die aus ihm selber fließen. Will man ihm Fesseln anlegen, so gibt man ihm dadurch erst recht die Freiheit nur wenn man es frei läßt, vermag man es zu fesseln.
Wenn der Fischer den Köder auswirft, so kommt der Fisch herbei und schwimmt ohne Mißtrauen um denselben herum. Wenn er aber von dem unter der Lockspeise angebrachten Angelhaken erfaßt wird und fühlt, daß die Schnur zurückgezogen wird, bestrebt er sich, zu fliehen. Ist der Fischer nun etwa der Wohlthäter, der Fisch der Undankbare? Macht man je die Erfahrung, daß ein von seinem Wohlthäter vergessener Mensch diesen auch seinerseits vergißt? Im Gegentheil, es macht ihm Freude, beständig von demselben zu sprechen, und nie gedenkt er seiner ohne Rührung. Findet sich Gelegenheit, wo er ihm durch einen unerwarteten Dienst beweisen kann, daß er der empfangenen Wohlthaten noch immer eingedenk sei, mit welcher inneren Befriedigung erfüllt er dann die Pflicht der Dankbarkeit! Mit welcher süßen Freude gibt er sich ihm zu erkennen! Mit welchem Entzücken sagt er zu ihm: »Jetzt ist die Reihe an mir!« – Wahrlich, darin spricht sich die Stimme der Natur aus. Sicherlich hat eine wahre Wohlthat noch nie einen Undankbaren gemacht.
Wenn also die Dankbarkeit ein natürliches Gefühl ist, und ihr die Aeußerung derselben nicht durch eigene Schuld verhindert, so könnt ihr euch versichert halten, daß euer Zögling, sobald er erst den Werth eurer Sorgfalt einzusehen beginnt, dieselbe zu würdigen wissen wird,vorausgesetzt, daß ihr ihren Preis nicht selbst festgesetzt habt, und könnt auch glauben, daß sie euch in seinem Herzen eine durch nichts zu erschütternde Autorität verschaffen wird. Bevor ihr jedoch dieses Vortheils völlig sicher seid, müßt ihr sehr auf eurer Hut sein, desselben nicht dadurch verlustig zu gehen, daß ihr euch bei ihm ein besonderes Ansehen geben wollt. Eure Dienste in seiner Gegenwart herausstreichen, heißt sie ihm unerträglich machen, sie vergessen, heißt sie ihm ins Gedächtniß rufen. Bis zu dem Zeitpunkte, wo eine männliche Behandlung ihm gegenüber nöthig wird, darf nie die Rede davon sein, was er euch, sondern nur davon, was er sich selbst zu verdanken hat. Um ihn folgsam zu machen, lasset ihm volle Freiheit; entzieht euch ihm, damit er
Weitere Kostenlose Bücher