Emil oder Ueber die Erziehung
gleichen Schritt hält. Die Unabhängigkeit und Freiheit der Menschen beruht wenigerauf der Kraft der Arme als vielmehr auf der Mäßigung der Herzen. Wer wenig begehrt, hängt von Wenigen ab. Weil wir jedoch unsere eitlen Wünsche beständig mit unseren physischen Bedürfnissen verwechseln, so haben diejenigen, welche in letzteren die Grundlage der menschlichen Gesellschaft gefunden zu haben glauben, die Wirkungen regelmäßig für die Ursachen gehalten, und haben deshalb mit allen ihren Schlußfolgerungen niemals zu einem richtigen Resultate kommen können.
Im Naturzustande gibt es in der That eine wirkliche und unzerstörbare Gleichheit, weil der alleinige Unterschied zwischen Mensch und Mensch in diesem Zustande unmöglich groß genug sein kann, um den Einen in die Abhängigkeit des Andern zu bringen. Im bürgerlichen Zustande gibt es dafür eine Rechtsgleichheit, die aber nur in der Einbildung besteht, weil die zu ihrer Erhaltung bestimmten Mittel selbst an ihrer Zerstörung arbeiten und die öffentliche Gewalt, deren sich der Stärkere nur zur Unterdrückung des Schwächeren bedient, die Gleichheit vernichtet, welche die Natur zwischen ihnen hergestellt hatte. [8] Aus diesem ersten Widerspruche leiten sich alle übrigen her, die in der bürgerlichen Ordnung zwischen Schein und Wirklichkeit hervortreten. Stets wird die Menge der Minorität und das öffentliche Interesse dem Sonderinteresse geopfert werden. Immer werden die Namen Gerechtigkeit und Unterordnung, denen ja eine gewisse Berechtigung zur Seite steht, der Gewalt als Werkzeuge und der Ungerechtigkeit als Waffen dienen. Hieraus ergibt sich, daß die bevorzugten Classen, welche den anderen Ständen Nutzen zu bringen behaupten, in Wahrheit nur auf Kosten der übrigen ihrem eigenen Nutzen nachjagen. Darnach läßt sich beurtheilen, welches Ansehen ihnen nach Recht und Vernunft gebührt. Um darüber ins Klare zu kommen, wie Jeder von uns sein eigenes Schicksal beurtheilen müsse, bleibt uns noch zu erwägen, ob der Rang, den sie sichbeigelegt haben, auch wirklich zum Glücke derer, die ihn einnehmen, ausschlägt. Diese Untersuchung ist für uns jetzt von größter Wichtigkeit; um sie aber mit Erfolg anstellen zu können, müssen wir zunächst das menschliche Herz kennen zu lernen suchen.
Wenn es sich nur darum handelte, den jungen Leuten den Menschen in seiner Maske zu zeigen, so könnte man von diesem Beginnen dreist abstehen, weil er sich ihren Blicken nur allzu häufig ganz von selbst darbieten würde. Da indeß die Maske nicht der Mensch selbst ist, und sein äußerer Firniß sie nicht irre führen darf, so malt ihnen die Menschen, wenn ihr euch einmal diese Aufgabe gestellt habt, so wie sie in Wirklichkeit beschaffen sind, nicht um ihnen Haß gegen dieselben, sondern Mitleid mit ihnen und den Wunsch einzuflößen, ihnen nicht ähnlich werden zu wollen. Das ist meines Erachtens das richtigste Gefühl, von welchem der Mensch in Bezug auf seine Gattung erfüllt sein kann.
Von diesem Gesichtspunkte aus wird sich unschwer die Nothwendigkeit nachweisen lassen, von jetzt an einen dem bisher verfolgten ganz entgegengesetzten Weg einzuschlagen und den jungen Mann vielmehr durch die Erfahrung, welche er Andere machen sieht, als durch seine eigene zu unterrichten. Wird er von den Menschen getäuscht, so wird er sie hassen; nimmt er dagegen wahr, daß sie sich, während sie es an Achtung gegen ihn nicht fehlen lassen, gegenseitig täuschen, so wird er sie bemitleiden. Das Schauspiel der Welt, sagt Pythagoras, gleicht dem der olympischen Spiele; Etliche schlagen Buden auf und haben nur ihren Gewinn im Auge; Andere setzen, um Ruhm zu gewinnen, ihr Leben ein, und wieder Andere begnügen sich, den Spielen zuzuschauen, und das sind nicht die Schlechtesten.
Mein Wunsch wäre, man wählte die Gesellschaft eines jungen Mannes derart, daß er sich von denen, die mit ihm leben, nur eine gute Meinung bilden könnte, während man ihm gleichzeitig eine so genaue Weltkenntniß beibrächte, daß er von Allem, was sich in der Welt zuträgt, eine schlechte Meinung faßte. Er lerne, daß der Mensch von Natur gut ist, er fühle die Wahrheit lebendig in sich selbstund schließe von sich auf seinen Nächsten. Aber es darf seinen Blicken auch nicht entgehen, daß die Gesellschaft die Menschen verdirbt und verschlechtert; in ihren Vorurtheilen finde er die Quelle aller ihrer Fehler. Bei aller Achtung des Einzelnen verachte er die Menge. Er überzeuge sich davon, daß alle Menschen
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