Emil oder Ueber die Erziehung
euch aufsuche; erhebt seine Seele zu dem edelen Gefühle der Dankbarkeit, indem ihr lediglich von seinem eigenen Interesse zu ihm redet. Ich habe gewünscht, daß man ihm nicht eher sage, daß Alles, was man für ihn gethan habe, zu seinem eigenen Besten sei, als bis er im Stande wäre, es zu verstehen. Er würde aus einer solchen Erklärung nur eure Abhängigkeit herausgefühlt und euch als seinen Diener betrachtet haben. Jetzt jedoch, wo er zu fühlen beginnt, was lieben heißt, sagt ihm auch sein Gefühl, welch süßes Band einen Menschen mit dem, welchen er liebt, vereinigen könne; und in dem Eifer, mit dem ihr euch unaufhörlich um ihn beschäftigt, erblickt er nicht mehr die bloße Ergebenheit eines Sklaven, sondern die Liebe eines Freundes. Aber nichts hat einen größeren Einfluß auf das Menschenherz, als die Stimme offen bekannter Freundschaft, denn man weiß, daß sie sich stets nur in unserem Interesse erhebt. Man kann zwar annehmen, daß ein Freund sich selbst täuscht, nicht aber, daß er darauf ausgehe, uns zu täuschen. Bisweilen fühlt man sich mit seinen Rathschlägen nicht einverstanden, nie aber verachtet man sie.
Jetzt endlich sind wir bei der moralischen Ordnung angelangt. Wir haben soeben einen zweiten Mannesschritt gethan. Wenn hier der Ort dazu wäre, so würde ich nachzuweisen versuchen, wie sich schon bei den ersten Regungen des Herzens sofort die Stimme des Gewissens vernehmenläßt, und wie schon die ersten Gefühle der Liebe und des Hasses auch die ersten Begriffe von gut und böse in ihrem Gefolge haben. Ich würde anschaulich machen, daß Gerechtigkeit und Güte nicht bloße abstracte Worte, nicht bloße moralische Gebilde der Vernunft sind, sondern wirkliche Gefühle der durch die Vernunft erleuchteten Seele, welche nur eine von der Natur gebotene Fortbildung unseres ursprünglichen Seelenzustandes bilden; daß man durch die Vernunft allein und unabhängig vom Gewissen kein natürliches Gesetz aufzustellen vermag, und daß das ganze sogenannte Naturrecht Nichts als ein Hirngespinnst ist, wenn es sich nicht auf ein dem Menschenherzen natürliches Bedürfniß gründet. [7] Allein ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, hier metaphysische und moralische Abhandlungen oder Lehrgänge irgend welcher Art zu schreiben; es genügt mir, die Reihenfolge und den Fortschritt unserer Gefühle und unserer Kenntnisse im Verhältnisse zu unserer sonstigen Lage anzudeuten. Andere werden vielleicht das,was ich hier nur flüchtig skizzire, ausführlicher auseinandersetzen.
Da bisher mein Emil nur auf sich selbst geachtet hat, so treibt ihn der erste Blick, welchen er auf seine Nebenmenschen wirft, zur Vergleichung mit denselben an, und das erste Gefühl, welches diese in ihm hervorruft, ist der Wunsch, die erste Stelle einzunehmen. Das ist nun der Punkt, wo sich die Selbstliebe in Eigenliebe verwandelt, und wo sich alle Eigenschaften, die Letztere stets in ihrem Gefolge mit sich führt, zu bilden beginnen. Um indeß zu entscheiden, ob diejenigen dieser Leidenschaften, welche in seinem Charakter zur Herrschaft gelangen werden, menschlich und sanft, oder grausam und bösartig, ob es Leidenschaften des Wohlwollens und des Erbarmens oder des Neides und der Begehrlichkeit sein werden, muß er sich darüber klar werden, welche Stellung er von nun an unter den Menschen einzunehmen gedenkt und welche Art von Hindernissen sich ihm aller Voraussetzung nach entgegenstellen werden, um diejenige in der That zu erlangen, die er sich zu erwerben wünscht.
Um ihn bei dieser Untersuchung zu leiten, muß man ihm die Menschen, nachdem man sie ihn zuvor nur nach den der ganzen Gattung gemeinsamen Eigenschaften kennen gelehrt hat, auch nach ihren Verschiedenheiten zeigen. Hier lenkt sich nun der Blick auf die Größe der natürlichen wie der bürgerlichen Ungleichheit unter den Menschen und auf das Gemälde der ganzen socialen Ordnung.
Man muß die Gesellschaft durch die Menschen und die Menschen durch die Gesellschaft studiren. Diejenigen, welche die Politik und die Moral gesondert von einander behandeln wollen, werden nie dazu gelangen, auch nur eine derselben richtig zu verstehen. Richten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst nur auf die ursprünglichen Verhältnisse, so erkennen wir schon, einen wie hohen Einfluß sie auf die Menschen gewinnen und welche Leidenschaften sie wachrufen müssen. Ferner bemerken wir, wie mit dem Fortschreiten der Leidenschaften die Vermehrung so wie die Beschränkung dieser Verhältnisse
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