Emil oder Ueber die Erziehung
fast die gleiche Maske tragen, aber er erfahre auch, daß es Gesichter gibt, die schöner sind als die Maske, welche sie bedeckt.
Diese Methode hat unläugbar ihre Schattenseiten und bietet in der Praxis große Schwierigkeiten dar, denn wird der junge Mann zu früh Beobachter, haltet ihr ihn an, den Handlungen Anderer eine allzu große Aufmerksamkeit zu schenken, so tragt ihr selbst die Schuld, wenn sich in ihm ein Hang zum Spott und zur Satire herausbildet, wenn er sich ein absprechendes und vorschnelles Wesen aneignet. Er wird eine häßliche Freude darin finden, Alles auf das Uebelste auszulegen und selbst das wirklich Gute mit sehenden Augen nicht zu sehen. Wenigstens wird er sich an den Anblick des Lasters gewöhnen, und es dahin bringen, die Schlechten ohne Abscheu anzublicken, genau in derselben Weise, wie man sich daran gewöhnt, die Unglücklichen ohne Mitleid zu betrachten. Binnen Kurzem wird ihm die allgemeine Verderbniß weniger zur Lehre als zur Entschuldigung dienen. Er wird sich ganz einfach sagen, wenn der Mensch einmal so beschaffen sei, so wäre auch keine Ursache vorhanden, anders sein zu wollen.
Hegt ihr dagegen die Absicht, ihn nach Grundsätzen zu unterrichten und ihn nicht nur mit der Natur des menschlichen Herzens, sondern auch mit der Einwirkung der äußeren Ursachen bekannt zu machen, welche unsere Neigungen in Laster verwandeln, so wendet ihr, indem ihr seine Aufmerksamkeit plötzlich von sinnlichen Gegenständen auf intellectuelle hinlenkt, eine Metaphysik an, die er nicht zu begreifen im Stande ist; ihr verfallt in den Uebelstand, den ihr bisher so sorgfältig vermieden habt, ihm nicht durch die Anschauung gewonnene, sondern rein abstracte Lehren zu geben und in seinem Geiste an Stelle seiner eigenen Erfahrung und der Fortschritte seiner sich stetigentwickelnden Vernunft die Erfahrung und Autorität des Lehrers zu setzen.
Zur gleichzeitigen Beseitigung beider Hindernisse und um seiner Fassungskraft die Kenntniß des menschlichen Herzens zu erleichtern, ohne daß ich Gefahr zu laufen brauche, das seinige zu verderben, beabsichtige ich ihm die Menschen von ferne zu zeigen, sie ihm aus anderen Zeiten oder an anderen Orten und zwar dergestalt zu zeigen, daß er den Schauplatz zu überblicken vermag, ohne in die Möglichkeit versetzt zu sein, handelnd auf demselben aufzutreten. Damit ist der richtige Augenblick für den Beginn des Geschichtsunterrichts gegeben. Durch seine Vermittelung wird er ohne die Lehren der Philosophie in den Herzen lesen lernen, durch seine Beihilfe wird er die Menschen in der Eigenschaft eines einfachen Zuschauers, ohne Interesse und Leidenschaft, als ihr Richter, nicht aber als ihr Mitschuldiger und ihr Ankläger betrachten.
Will man die Menschen kennen lernen, muß man sie handeln sehen. In der Welt hört man sie nur sprechen; in ihren Reden treten sie zwar öffentlich hervor, aber ihre Handlungen verbergen sie. In der Geschichte stehen sie jedoch entschleiert vor uns, und man beurtheilt sie nach ihren Thaten. Selbst ihre Reden sind uns zu ihrer richtigen Beurtheilung behilflich, denn durch Vergleich ihrer Thaten und ihrer Worte erkennt man zugleich, was sie sind und welchen Schein sie sich geben wollen; je mehr sie sich verstellen, desto besser erkennt man sie.
Unglücklicherweise ist dieses Studium mit Gefahren und Uebelständen vielfacher Art verbunden. Es bietet Schwierigkeiten dar, sich auf einen Standpunkt zu stellen, von dem aus man seine Mitmenschen mit Billigkeit zu beurtheilen im Stande ist. Eine große Schattenseite der Geschichte liegt in dem Umstande, daß sie die Menschen weit mehr nach ihren schlimmen als nach ihren guten Seiten darstellt. Da sie unser Interesse nur durch Revolutionen und Katastrophen zu fesseln weiß, so bleibt sie stumm, so lange ein Volk in der Stille einer friedlichen Regierung zunimmt und in glücklichen Verhältnissen lebt; sie fängt erst dann wieder von demselben zu berichten an,wenn es, außer Stande sich selbst zu genügen, sich in die Angelegenheiten seiner Nachbarn mischt oder sich Letztere in die seinigen mischen läßt; erst dann stellt sie ein Volk in das glänzendste Licht, wenn es seinem Untergange bereits nahe ist. Alle unsere Geschichtswerke beginnen da, wo sie schließen sollten. Es fehlt uns nicht an eingehenden Werken über die geschichtliche Entwicklung derjenigen Völker, die zerfallen und zu Grunde gehen, um so mehr aber an Schilderungen solcher Völker, die sich einer ruhigen und gleichmäßigen Zunahme
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