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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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bekommen, so will ich lieber, daß sie ihm von mir als von einem Anderen gezeichnet werden; wenigstens werden sie dann mit seinem sonstigen Wissen besser in Einklang stehen.
    Die schädlichsten Geschichtsschreiber für einen jungen Mann sind diejenigen, welche stets ihr eigenes Urtheil hinzufügen. Thatsachen, nichts als Thatsachen! Das Urtheil bleibe dem Leser selbst überlassen; dadurch eignet er sich Menschenkenntniß an. Läßt er sich unaufhörlich durch das Urtheil des Verfassers leiten, so sieht er nur durch das Auge eines Anderen, und wenn ihm dies Auge fehlt, so sieht er gar nichts mehr.
    Die Geschichte unserer Zeit lasse ich ganz bei Seite, nicht allein um deswillen, weil sie heutigen Tages keinen ausgeprägten Charakter mehr hat und die Menschen sich alle gleichen, sondern auch weil unsere Geschichtsschreiber, einzig und allein darauf bedacht zu glänzen, ihr Augenmerk nur darauf richten, bei ihren Charakteristiken die Farben so stark wie möglich aufzutragen und gerade dadurch die Darstellung im hohen Grade beeinträchtigen. [9] Im Allgemeinen geben die Alten weniger scharfe Charakteristiken, und ihre Urtheile zeichnen sich weniger durch Witz undGeist als durch gesunde Vernunft aus. Trotzdem muß man auch unter ihnen eine sorgfältige Auswahl treffen und Anfangs nicht die scharfsinnigsten, sondern die einfachsten zur Lectüre bestimmen. Ich möchte einem jungen Menschen weder den Polybius noch den Sallust in die Hand geben; Tacitus ist ein Buch für Greise, Jünglingen gebricht es an Verständniß für denselben. Bevor man die Tiefen des Menschenherzens zu erforschen vermag, muß man lernen, in den menschlichen Handlungen die ersten Züge desselben aufzufinden; bevor man in den Grundsätzen zu lesen versteht, muß man in den Thaten zu lesen wissen. Zur philosophischen Behandlung der Grundsätze gehört Erfahrung. Die Jugend darf nichts generalisiren; ihr ganzer Unterricht muß aus einzelnen Vorschriften bestehen.
    Thukydides halte ich für das ächte Muster eines Geschichtsschreibers. Er berichtet einfach die Thatsachen, ohne sein eigenes Urtheil über dieselben hinzuzufügen, aber er übergeht keinen Umstand, der dazu beitragen kann, daß wir uns ein eigenes Urtheil zu bilden vermögen. Alles, was er erzählt, geht unmittelbar unter den Augen des Lesers vor sich; statt sich vermittelnd zwischen die Begebenheiten und den Leser zu stellen, tritt seine Person völlig zurück; man glaubt nicht zu lesen, man glaubt zu sehen. Leider spricht er nur immer vom Kriege, und man begegnet in seinen Erzählungen fast nur Dingen, denen wir nur sehr wenige Lehren entnehmen können, nämlich Kriegsgeschichten. Der Rückzug der Zehntausend und die Commentarien des Cäsar zeichnen sich fast durch eine gleich maßvolle Darstellung, aber auch durch denselben Fehler aus. Der gute Herodot, der wenig Charakteristiken und Sentenzen bringt, aber fließend und naiv erzählt und eine Menge der interessantesten und anziehendsten Anekdoten enthält, würde vielleicht der beste Historiker sein, wenn eben diese Anekdoten nicht oft in wahrhaft kindische Einfalt ausarteten, die eher dazu angethan ist, den Geschmack der Jugend zu verderben als zu bilden. Zu seiner Lectüre muß man schon einen hohen Grad von Urtheilskraft besitzen. Ich will mich hier bei Titus Livius nicht aufhalten,da ich später auf ihn zurückkommen werde; aber er ist Politiker und Redner, kurz, er ist Alles, was für dieses Alter nicht paßt.
    Die Geschichte ist überhaupt in so fern mangelhaft, als sie nur sinnliche und sichtlich hervortretende Thatsachen, die man durch Namen, Oerter und Jahreszahlen leicht zu behalten vermag, dem Gedächtniß überliefert, während die sich langsam entwickelnden und nur sehr allmählich eine Wirkung hervorrufenden Ursachen dieser Thatsachen, welche sich nicht auf gleiche Weise bestimmen lassen, immer unbekannt bleiben. Oft glaubt man in einer gewonnenen oder verlorenen Schlacht die Ursache einer Revolution zu finden, welche selbst schon vor dieser Schlacht unvermeidlich geworden war. Der Krieg führt in der Regel nur solche Ereignisse herbei, welche durch moralische Ursachen schon längst vorbereitet waren, durch Ursachen, die die Geschichtsforscher freilich selten aufzufinden vermögen.
    Der philosophische Geist hat zwar das Nachdenken mehrerer Schriftsteller dieses Jahrhunderts nach dieser Richtung gelenkt, indeß bezweifle ich, daß die Wahrheit von ihrer Arbeit großen Vortheil habe. Sie sind Alle von der Wuth befallen, ein

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