Emil oder Ueber die Erziehung
zu erfreuen haben. Sie sind so glücklich und so weise, daß die Geschichte nichts von ihnen zu berichten weiß. Und in der That können wir uns selbst in unsern Tagen davon überzeugen, daß man von den besten Regierungen am wenigsten spricht. Es ist uns also nur das Schlechte bekannt, das Gute vermag kaum Aufmerksamkeit zu erregen. Nur die Bösen gelangen zur Berühmtheit, die Guten gerathen in Vergessenheit oder werden Gegenstände des Gelächters, und so verleumdet die Geschichte eben so wie die Philosophie unaufhörlich das menschliche Geschlecht.
Dazu tritt ferner noch der Uebelstand, daß uns die Darstellungen der Geschichte keineswegs ein treues Abbild der wirklichen Thatsachen geben; sie ändern im Kopfe des Geschichtsschreibers ihre Form, gestalten sich nach seinen Interessen und erhalten durch seine Vorurtheile ihre besondere Färbung. Wer versteht wol die Kunst, seinen Leser genau an den Ort des Schauspiels zu versetzen, daß er einen Vorgang gerade so zu sehen im Stande ist, wie er sich ereignet hat? Unwissenheit oder Parteilichkeit tragen die Schuld, daß alle Thatsachen entstellt werden. Ein wie verschiedenes Gepräge kann man einem historischen Zuge ohne eigentliche Fälschung schon durch die bloße Erweiterung oder Verengerung der damit im Zusammenhange stehenden Nebenumstände geben! Laßt ihr den nämlichen Gegenstand von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, so wird er noch kaum als derselbe erscheinen, und trotzdem hat außer dem Auge des Beschauers nichts eine Aenderung erlitten. Genügt, um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Erzählung einer an sich wahren Thatsache,wenn man sie mir ganz anders zeigt, als sie sich in Wirklichkeit ereignet hat? Wie oft hat ein Baum mehr oder weniger, ein Felsen zur Rechten oder zur Linken, ein vom Winde plötzlich aufgejagter Staubwirbel, die Entscheidung einer Schlacht herbeigeführt, ohne daß Jemand diesen Umstand beachtet hätte! Hält dies aber etwa den Geschichtsschreiber ab, euch die Ursache der Niederlage oder des Sieges mit einer Sicherheit zu erklären, als ob er überall persönlich zugegen gewesen wäre? Was kann mir aber an der bloßen Aufzählung von Thatsachen gelegen sein, wenn mir die Ursachen derselben unbekannt bleiben? Und welche Lehren kann ich einem Ereignisse entnehmen, dessen wahre Ursache ich nicht kenne? Der Geschichtsschreiber gibt mir zwar eine an, aber leider nur eine von ihm selbst ersonnene; und sogar die Kritik, von der man so viel Wesen macht, hat es lediglich mit Conjecturen zu thun, ist nichts Anderes als die Kunst, unter mehreren Lügen diejenige auszuwählen, welche der Wahrheit am ähnlichsten sieht.
Habt ihr schon Kleopatra oder Cassandra oder andere Bücher dieser Gattung gelesen? Der Verfasser sucht sich irgend eine bekannte Begebenheit aus, paßt sie seinem Zwecke an, schmückt sie mit Einzelheiten eigener Erfindung aus, führt in dieselbe Persönlichkeiten ein, die nie existirt haben, fügt einige Schilderungen hinzu, die nur Ergüsse seiner lebhaften Einbildungskraft sind, und häuft so Erdichtung auf Erdichtung, um die Lectüre seines Werkes angenehm zu machen. Ich nehme zwischen dergleichen Romanen und euren Geschichtswerken wenig Unterschied wahr; höchstens könnte als ein solcher der Umstand gelten, daß der Romanschreiber mehr seiner eigenen Einbildungskraft die Zügel schießen läßt, während sich der Geschichtsschreiber mehr durch die Phantasie Anderer leiten läßt. Dem möchte ich übrigens, wenn man will, noch die Bemerkung hinzufügen, daß der Erstere einen moralischen Zweck verfolgt, mag derselbe edel oder unedel sein, wonach der Letztere wenig fragt.
Man wird mir den Einwurf machen, daß weniger die geschichtliche Treue als vielmehr die Wahrheit derSitten- und Charakterschilderungen von Wichtigkeit sei; wenn sich nur die Darstellung des menschlichen Herzens als richtig erweise, so komme wenig darauf an, ob auch die Erzählung der Begebenheiten in allen Punkten treu sei; denn, fügt man hinzu, was hat das bei Begebenheiten zu sagen, die sich bereits vor zweitausend Jahren ereignet haben? Man hat Recht, wenn die Gemälde nach der Natur gezeichnet sind; wenn jedoch das Modell zu den meisten nur in der Phantasie des Geschichtsschreibers liegt, heißt es dann nicht in denselben Uebelstand zurückfallen, den man vermeiden wollte, und der Autorität des Schriftstellers das einräumen, was man sich der des Lehrers zu entziehen bestrebt? Soll einmal mein Zögling nur Phantasiegemälde zu sehen
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