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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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besonderes System aufzustellen; Keiner bemüht sich, die Dinge so anzuschauen, wie sie wirklich sind, sondern wie sie in sein System hineinpassen.
    Zu allen diesen Mängeln tritt noch der Umstand hinzu, daß uns die Geschichte weit mehr mit den Handlungen als mit den Menschen bekannt macht, weil sie dieselben nur in gewissen hervorragenden Momenten, gleichsam in ihren Paradekleidern, fixirt. Sie führt uns nur den sich in der Oeffentlichkeit bewegenden Menschen vor, der sich darauf eingerichtet hat, gesehen zu werden. Sie begleitet ihn nicht in sein Haus, in sein Arbeitszimmer, in seine Familie, in den Kreis seiner Freunde; sie malt ihn uns nur, wenn er seine öffentliche Rolle spielt; ihr Bild zeigt uns mehr sein Kleid als die Person.
    Das Studium des menschlichen Herzens würde ich am liebsten mit der Lectüre einzelner Lebensbeschreibungen beginnen; denn hier versucht sich der Mensch vergeblich zu verbergen, der Geschichtsschreiber folgt ihm überall hin;er läßt ihm keinen Augenblick Ruhe, läßt ihm keinen Schlupfwinkel übrig, in welchem er dem forschenden Blicke des Beobachters zu entgehen vermöchte; gerade wenn er sich einbildet, sich am besten verborgen zu haben, ist Jener am besten im Stande, ihn uns so zu zeichnen, daß wir ihn durchschauen können. »Die Verfasser von Biographien,« sagt Montaigne, »gewähren mir den größten Genuß, da sie ihr Augenmerk mehr auf die Entschließungen, als auf die Ereignisse richten, sich mehr mit den inneren Antrieben, als mit den äußeren Vorgängen beschäftigen. Deshalb ist auch Plutarch in jeder Beziehung mein Mann.« [10]
    Wahr ist es, daß der Charakter einer größeren Menschenzahl oder ganzer Völker von dem eines einzelnen Menschen sehr verschieden ist und daß wir uns nur eine sehr unvollkommene Kenntniß des menschlichen Herzens verschaffen würden, wenn wir nicht auch die Schläge desselben in einer größeren Volksmasse untersuchen wollten; aber es ist auch nicht weniger wahr, daß man, um sich ein richtiges Urtheil über die Menschen zu bilden, mit dem Studium des einzelnen Menschen den Anfang machen muß, und daß derjenige, welcher mit den Neigungen eines jeden Einzelnen vertraut wäre, auch im Stande sein würde, ihre Gesammtwirkung in dem Volkskörper vorauszusehen.
    Aus den oben bereits angegebenen Gründen muß ich hier noch einmal auf die Alten zurückkommen. Aber mich veranlaßt dazu auch noch ein anderer Beweggrund. Da aus unserer modernen Darstellungsweise alle aus dem häuslichem Leben gegriffene und geringfügige, dafür aber wahre und charakteristische Züge verbannt sind, so werden die Menschen von unseren Schriftstellern in ihrem Privatleben eben so herausgeputzt, wie auf dem Schauplatze der Welt. Der äußere Anstand, der nicht nur für die Handlungen, sondern auch für die Schriften als Richtschnur aufgestellt wird, gestattet nicht, öffentlich mehr auszusprechen, als er öffentlich zu thun gestattet, und da man also die Menschen nicht anders als in ihrem öffentlichen Auftreten darstellen kann, so lernt man sie aus unseren Büchern ebenso wenig kennen, als in unseren Theatern. Vergeblich wird man deshalb das Leben der Könige beschreiben und wieder beschreiben, wir werden trotzdem keinen neuen Sueton bekommen. [11]
    Plutarch zeichnet sich gerade durch Anführung solcher Einzelheiten aus, die wir gar nicht mehr zu erwähnen wagen. Er entwickelt eine unnachahmliche Anmuth in der Schilderung großer Männer in kleinen Dingen, und er ist in der Wahl seiner Züge so glücklich, daß oft ein Wort, ein Lächeln, eine Geberde zur Charakterisirung seines Helden genügt. Mit einem Scherzworte ermuthigt Hannibal sein von panischem Schrecken ergriffenes Heer wieder, daß es ihm unter Lachen in die Schlacht folgt, die Italien in seine Hände gibt. Wenn uns Agesilaus auf einem Steckenpferde reitend vorgestellt wird, fühlen wir uns erst recht zu diesem Besieger des großen Königs hingezogen. Als Cäsar ein ärmliches Dorf passirt und mit seinen Freunden plaudert, verräth er uns, ohne es zu ahnen, den in ihm wohnenden Schelm, der ihn zu dem Geständnisse trieb, daß er sich kein höheres Ziel gestellt habe, als sich zu einer gleichen Stellung emporzuschwingen, wie sie Pompejus einnehme. Alexander trinkt, ohne ein einziges Wort zu sagen, eine Arznei aus; dies ist der schönste Augenblick seines Lebens. Aristides schreibt seinen eigenen Namen auf einen Scherben und rechtfertigt dadurch seinen Beinamen. Philopömen beschäftigt sich, nachdem er seinen

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