Emil oder Ueber die Erziehung
Mantel abgelegt hat, in der Küche seines Gastfreundes mit Holzspalten. In solcher Darstellung spricht sich die wahre Kunst zu malen aus. Die Physiognomie tritt nicht in großen Zügen, noch der Charakter in großen Thaten hervor; gerade in Kleinigkeiten enthüllt sich das natürliche Wesen. Die in der Öffentlichkeit vor sich gehenden Handlungen erheben sich entweder nicht über das Gewöhnliche oder sind zusorgfältig vorbereitet, aber die schriftstellerische Würde gestattet es leider unsern Historikern heutigen Tages, fast ausschließlich nur bei ihrer Schilderung zu verweilen.
Zu den größten Männern des letzten Jahrhunderts gehört unstreitig der Vicomte von Turenne. Man hat in der That den Muth gehabt, seine Biographie durch solche anekdotenartige Züge interessant zu machen, die ihn uns nicht nur kennen lehren, sondern uns auch Zuneigung zu ihm einflößen. Aber wie viele derselben, die uns sein Inneres noch mehr erschlossen und unsere Liebe zu ihm noch gesteigert hätten, hat man sich zu unterdrücken genöthigt gesehen! Ich will hier nur einen derselben mittheilen, den ich einer zuverlässigen Quelle verdanke, und den Plutarch gewiß nicht übergangen hätte, vor dessen Erzählung sich aber Ramsai, wenn er ihm zu Ohren gekommen wäre, sicherlich gehütet haben würde.
An einem drückend heißen Sommertage sah der Vicomte von Turenne, in einer kurzen weißen Weste und einer Mütze auf dem Kopfe, aus einem Fenster seines Vorzimmers. Plötzlich tritt einer seiner Diener herein und hält ihn, indem er sich durch die ähnliche Kleidung täuschen läßt, für einen Küchengehilfen, mit dem er eng befreundet war. Er schleicht sich hinterrücks an ihn heran und versetzt ihm mit einer durchaus nicht leichten Hand einen wuchtigen Schlag auf das Gesäß. Sofort wendet sich der Geschlagene um und entsetzt und zitternd schaut der Diener seinem Herrn ins Gesicht. Ganz außer sich wirft er sich ihm zu Füßen. »Gnädiger Herr, ich glaubte, es wäre Georg!« – »Und wenn es auch Georg gewesen wäre,« versetzte Turenne, während er sich den Hintern rieb, »so hättest du doch nicht so derb zuschlagen sollen.«
Dergleichen wagt ihr armen bedauernswerthen Menschen also nicht zu berichten! Nun so verläugnet denn für immer die Natur und bleibt allzeit herzlos! Laßt eure eisernen Herzen in eurem erbärmlichen Anstandsgefühl noch mehr verhärten, macht euch durch eure angenommene Würde erst recht verächtlich! Du aber, lieber Jüngling, der du diesen Zug liesest, und dich von der Seelengüte, welche Turenne selbst in der ersten Aufregung an den Tag legt,ergriffen fühlst, mache dich auch mit den Schwächen dieses großen Mannes bekannt, sobald es sich um seine Geburt und seinen Namen handelte. Erwäge, daß dies der nämliche Turenne ist, der seinen Stolz darin setzte, seinem Neffen überall den Vortritt zu lassen, damit man gar nicht übersehe, daß dies Kind das Haupt eines regierenden Hauses sei. Vergleiche diese Widersprüche, liebe die Natur, verachte die öffentliche Meinung und lerne den Menschen kennen.
Nur Wenige sind im Stande, die Wirkungen zu begreifen, welche eine in dieser Weise geleitete Lectüre auf das noch ganz unerfahrene Gemüth eines jungen Mannes auszuüben vermag. Von Kindheit an zur Lectüre aushalten und dadurch förmlich abgestumpft, an ein gedankenloses Lesen gewöhnt, berührt uns Alles, was wir lesen, um so weniger, als wir von denselben Leidenschaften und Vorurtheilen, von denen uns die Geschichte und die Biographien großer Männer berichten, beseelt sind. Weil wir selbst das Natürliche abgestreift haben und alle Andere nach uns beurtheilen, erscheint uns auch Alles, was Jene thun, natürlich. Man denke sich dagegen einen jungen Mann, der nach meinen Grundsätzen erzogen ist; man stelle sich meinen Emil vor, bei dessen Erziehung achtzehn Jahre lang alle mögliche Sorge nur darauf verwandt wurde, ihm ein unbestechliches Urtheil und ein gesundes Herz zu bewahren; man stelle sich ihn vor, wie er beim Aufziehen des Vorhanges zum ersten Male seine Blicke auf die Weltbühne wirft, oder vielmehr, wie er vom Hintergrunde des Theaters aus Zeuge ist, wie die Rolleninhaber ihre zum Stücke gehörenden Kleider an- und ablegen, und die Seile und Winden zählt, deren plumpes Blendwerk die Augen der Zuschauer täuscht. Bald werden an Stelle des ersten Erstaunens Aufwallungen der Scham und der Verachtung seines Geschlechtes treten. Tiefster Unwille wird sich seiner über die Beobachtung bemeistern,
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