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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Eurigen? Dies ist, wie mir scheint, die Frage, die man beantworten muß, um erkennen zu können, ob ich mich geirrt habe.
    Der Mensch beginnt nicht so leicht zu denken; sobald er aber erst einmal den Anfang damit gemacht hat, hört er nicht mehr auf. Wer gedacht hat, wird immer denken, und der Verstand vermag, wenn er einmal im Nachdenken geübt ist, nie wieder in Unthätigkeit zu verharren. Man könnte deshalb auf die Vermuthung kommen, daß ich bei meiner Methode zu viel oder zu wenig thäte, daß die Thätigkeit des menschlichen Geistes von Natur nicht so schnell sichtbar würde, und daß ich denselben, nachdem ich ihm Gaben beigemessen hätte, die er gar nicht besäße, trotzdem in einem Ideenkreise eingeengt hielte, den er längst durchbrochen haben sollte.
    Erstens ist jedoch zu berücksichtige», daß es sich bei dem Wunsche, einen Naturmenschen heranzubilden, noch nicht darum handelt, einen Wilden aus ihm zu machen und ihn in die Tiefe der Wälder zu verweisen; sondern es genügt, daß er sich im gesellschaftlichen Strudel weder durch die Leidenschaften noch durch die Vorurtheile der Mengemit fortreißen läßt, daß er mit eigenen Augen sieht, mit eigenem Herzen fühlt, daß er sich unter die Herrschaft keiner Autorität als unter die seiner Vernunft beugt. Es ist einleuchtend, daß die Menge der Gegenstände, deren Einwirkungen er in dieser Lage ausgesetzt ist, die stets neuen Gefühle, die ihn erfüllen, die verschiedenen Mittel, seinen wirklichen Bedürfnissen abzuhelfen, ihn mit vielen Begriffen bekannt machen müssen, die er sonst niemals oder doch nur auf einem viel langsameren Wege erlangen würde. Der dem Geiste natürliche Fortschritt wird beschleunigt, aber nicht aufgehoben. Der nämliche Mensch, der in den Wäldern dumm bleiben muß, muß in den Städten, wenn er auch nur einfacher Zuschauer ist, vernünftig und verständig werden. Nichts ist geeigneter, uns weise zu machen, als der Anblick von Thorheiten, an denen wir uns nicht betheiligen; und sogar der Teilnehmer belehrt sich noch, vorausgesetzt, daß er von ihnen nicht geblendet wird und demselben Irrthum unterliegt, wie diejenigen, welche sie begehen.
    Weiter wolle man bedenken, daß wir, durch unsere Anlagen auf sinnliche Gegenstände beschränkt, für die Auffassung abstrakter Begriffe der Philosophie und rein geistiger Ideen fast gar keine Fähigkeit besitzen. Um uns dieselben anzueignen, müssen wir uns entweder von diesem Körper, an den wir mit so starken Banden gefesselt sind, frei machen, oder von Gegenstand zu Gegenstand stufenweise und langsam fortschreiten, oder wir müssen die Kluft endlich rasch und gleichsam mit einem Riesenschritte überspringen, dessen die Kindheit unfähig ist und zu welchem sogar der Mann eine für ihn besonders angefertigte Stufenleiter nöthig hat. Die erste abstracte Idee bildet die erste Sprosse derselben; aber ich vermag nur schwer einzusehen, wie man sie sich herzurichten denkt.
    Das unerforschliche, allumfassende Wesen, welches der Welt die Bewegung verleiht, und welchem die ganze Reihe der Wesen ihren Ursprung verdankt, ist weder unseren Augen sichtbar, noch unseren Händen greifbar. Es entzieht sich allen unseren Sinnen. Das Werk tritt uns sichtbar entgegen, aber der Meister verbirgt sich. Es istkeine Kleinigkeit, seine Existenz endlich zu erkennen. Und ist es uns gelungen, fragen wir uns: »Was ist er? Wo ist er?« so verwirrt und verirrt sich unser Geist und die Gedanken stehen uns still.
    Locke verlangt, man solle sich zuerst mit dem Studium der Geister beschäftigen und erst dann zu dem der Körper übergehen. Das ist die Methode des Aberglaubens, der Vorurtheile, des Irrthums, aber nicht die der Vernunft, ja nicht einmal die der wohlgeordneten Natur. Es heißt sich die Augen verbinden, um sehen zu lernen. Es bedarf eines langen Studiums der Körper, ehe man im Stande ist, sich von den Geistern eine richtige Vorstellung zu machen und sich zur Ahnung ihrer Existenz hindurchzuarbeiten. Die umgekehrte Reihenfolge führt zum Materialismus.
    Da unsere Sinne die ersten Werkzeuge zur Erlangung unserer Kenntnisse sind, so sind auch die körperlichen und sinnlich wahrnehmbaren Dinge die einzigen, von denen wir unmittelbar eine Vorstellung erhalten. Wer nicht mit den philosophischen Anschauungen vertraut ist, vermag mit dem Worte »Geist« keinen Sinn zu verbinden. Die große Masse des Volkes und die Kinder stellen sich einen Geist stets körperlich vor. Glauben sie nicht an Geister, welche schreien,

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