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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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berücksichtigen nicht, daß er sich ja nothwendig von ihnen unterscheiden muß, weil er eine ganz andere Erziehung erhalten hat, von ganz anderen Gefühlen beseelt und ganz anders unterrichtet ist als sie. Es würde vielmehr weit überraschender sein, wenn er ihnen ähnelte, anstatt so zu sein, wie ich ihn voraussetze. Er ist nicht ein Mensch, wie ihn der Mensch, sondern wie ihn die Natur bildet. Sicherlich muß er deshalb ihren Augen sehr befremdend vorkommen.
    Beim Beginne dieses Werkes stellte ich nichts auf, was nicht Jedermann eben so gut beobachten könnte als ich, weil es ja ein und derselbe Punkt ist, nämlich die Geburt des Menschen, von dem wir Alle gleichmäßig ausgehen; je weiter wir jedoch fortschreiten, ich, um die Natur zu unterstützen, und ihr, um sie niederzuhalten und zu verderben, desto mehr entfernen wir uns von einander. In seinem sechsten Jahre unterschied sich mein Zögling wenig von den eurigen, da es euch noch an ausreichender Zeit zu ihrer Verbildung gefehlt hatte. Jetzt ist alle Aehnlichkeit zwischen ihnen verschwunden, und das Mannesalter, dem sich Emil nun nähert, muß ihn uns unter einer völlig abweichenden Gestalt zeigen, wenn ich nicht alle meine Mühe umsonst angewandt habe. Die Menge der Kenntnisse ist auf beiden Seiten vielleicht gleich; aber die Gegenstände, auf welche sich die Kenntnisse erstrecken, sind sehr verschieden.Es setzt euch in Erstaunen, bei dem Einen erhabene Gefühle wahrzunehmen, von denen sich bei den Anderen auch nicht die geringste Spur vorfindet, aber berücksichtigt auch, daß Letztere bereits sämmtlich Philosophen und Theologen sind, bevor Emil nur weiß, was Philosophie ist, ja bevor er noch von Gott hat reden hören.
    Machte man mir etwa den Einwand: »Nichts von dem, was du annimmst, existirt in Wirklichkeit; die jungen Leute sind keineswegs so beschaffen, sie haben diese oder jene Leidenschaft; sie thun dies oder das,« so liefe dies auf dasselbe hinaus, als wenn man bestreiten wollte, daß deshalb, weil man in unseren Gärten nur Zwergbäume zu sehen bekommt, nun auch je ein Birnbaum ein großer Baum sein könnte.
    Ich bitte diese Richter, die stets bei der Hand sind, ein absprechendes Urtheil zu fällen, doch in Betracht zu ziehen, daß ich das, was sie da sagen, ganz eben so gut weiß als sie, daß ich wahrscheinlich länger darüber nachgedacht habe, und daß ich, da mir jedes Interesse fehlt, sie hinter das Licht zu führen, zu der Forderung berechtigt bin, daß sie sich wenigstens so viel Zeit nehmen; zu untersuchen, worin ich mich irre. Mögen sie die Beschaffenheit des Menschen einer sorgfältigen Untersuchung unterwerfen, mögen sie die Anfänge der Entwickelung des menschlichen Herzens bei dieser oder jener Gelegenheit verfolgen, um zu erkennen, einen wie großen Unterschied die Erziehung zwischen zwei Individuen hervorrufen kann; mögen sie darauf die meinige mit der Wirkung vergleichen, die ich mir davon verspreche, und mir dann auseinandersetzen, in welcher Hinsicht ich mir einen Trugschluß habe zu Schulden kommen lassen; erst dann werde ich nichts zu entgegnen haben.
    Was mich in meiner Ansicht noch mehr bestärkt und mir, meines Erachtens, zur Entschuldigung dienen muß, daß ich ihr huldige, ist die Thatsache, daß ich, weit davon entfernt, der Sucht zu systematisiren nachzugeben, der blos logischen Beweisführung einen so geringen Spielraum wie möglich gewähre und mich nur auf die Beobachtung verlasse. Ich stütze mich nicht auf das Resultat meinerEinbildung, sondern auf das meiner Wahrnehmung. Es ist wahr, daß ich mich bei der Einsammlung meiner Erfahrung nicht blos auf das Weichbild einer Stadt, noch auf eine einzige Menschenrasse beschränkt habe; aber nach Vergleichung so vieler Stände und Völker, deren Bekanntschaft ich in meinem nur der Beobachtung gewidmeten Leben habe machen können, habe ich als erkünstelt alles dasjenige ausgeschieden, was sich als ausschließliche Eigentümlichkeit eines einzigen Volkes oder Standes herausstellte, und zu dem menschlichen Wesen nur das als unbestreitbar zugehörig betrachtet, was Allen, ohne Unterschied des Alters, des Ranges und der Nation, gemeinsam war.
    Verfolgt ihr nun nach dieser Methode die Entwickelung eines jungen Mannes, dem es noch an einer bestimmt ausgeprägten Form fehlt und der von der Autorität und Meinung Anderer so wenig wie möglich abhängt, von seiner frühesten Kindheit an, wem wird er wol nach eurem Bedünken am meisten ähneln, meinem Zöglinge oder den

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