Emil oder Ueber die Erziehung
der Vernunft, die er ausgebildet hat, einen schlechten Gebrauch macht, und weil er im Stande ist, die Wahrheiten zu verstehen, die er verwirft. Was aber glaubt ein Kind, welches sich zu der christlichen Religion bekennt? Das, was es versteht; allein es versteht das, was man es nachsprechen läßt, in so geringem Grade, daß es, falls ihr ihm plötzlich das Gegentheil vorsprecht, dies eben so willig annehmen wird. Der Glaube der Kinder so wie der vieler Erwachsener ist lediglich eine Sache der Geographie. Soll ihnen etwa dafür ein Lohn zu Theil werden, daß sie in Rom und nicht in Mekka geboren sind? Dem Einen redet man vor, daß Mahomed der ProphetGottes ist, und es sagt nun natürlich auch: »Mahomed ist der Prophet Gottes!« Dem Andern sagt man, Mahomed sei ein Betrüger, und es behauptet deshalb gleichfalls: »Mahomed ist ein Betrüger!« Jeder von diesen Beiden hätte das behauptet, was der Andere behauptet, wenn ihre Geburtsstätten vertauscht wären. Können nun wol diese angeborenen Anlagen, die sich bei Beiden so ähnlich zeigen, eine so verschiedene Wirkung ausüben, daß das Eine in das Paradies versetzt, das Andere aber der Hölle überantwortet wird? [17] Legt ein Kind das Bekenntniß ab, daß es an Gott glaube, so ist es eigentlich nicht Gott, an den es glaubt, sondern der Peter oder der Jacob, welche ihm sagen, es gebe etwas, was man Gott nenne; und es glaubt dies in der Weise des Euripides, der öffentlich bekennt:
O Jupiter, von dem ich nichts
Als nur den Namen kenne! [18]
Wir glauben, daß kein vor dem Alter der Vernunft gestorbenes Kind von der ewigen Seligkeit ausgeschlossen werde; die Katholiken glauben dasselbe von allen getauften Kindern, wenn sie auch noch nie von Gott haben reden hören. Folglich gibt es Fälle, wo man, ohne an Gott zu glauben, selig werden kann, und solche Fälle kommen theils in der Kindheit, theils beim Wahnsinne vor, wo dem menschlichen Geiste diejenige Fähigkeit genommen ist, die zu der Erkenntniß der Gottheit nothwendig ist. Der ganze Unterschied, den ich zwischen euch und mir finde, besteht darin, daß ihr die Behauptung aufstellt, die Kinder besäßen diese Fähigkeit schon in einem Alter von sieben Jahren, während ich sie ihnen noch im fünfzehnten Jahreabspreche. Ob ich nun Recht oder Unrecht habe, so handelt es sich hier keineswegs um einen Glaubensartikel, sondern um eine einfache naturhistorische Beobachtung.
Nach demselben Grundsatze ist es auch einleuchtend, daß selbst ein Mensch, der ohne an Gott zu glauben das Greisenalter erreicht hat, um deswillen noch nicht des zukünftigen Lebens verlustig gehen wird, wenn er nicht absichtlich in seiner Verblendung verharrte, und ich bekenne offen, daß meiner Ansicht nach dies nicht immer der Fall sein wird. Ihr theilt meine Ansicht, wenn es sich um Wahnsinnige handelt, die eine Krankheit zwar ihrer geistigen Fähigkeiten, damit aber noch nicht ihrer Eigenschaft als Menschen und also auch nicht ihres Anrechtes auf die Wohlthaten ihres Schöpfers beraubt hat. Weshalb mir also eure Beistimmung in Bezug auf solche Personen versagen, welche, von ihrer Kindheit an der menschlichen Gesellschaft fern stehend, ein völlig wildes Leben geführt haben, und denen deshalb alle jene Einsichten fehlen, die man sich nur im Umgange mit Menschen anzueignen vermag. [19] Denn es ist eine erwiesene Unmöglichkeit, daß ein solcher Wilder je im Stande sein sollte, sich durch eigene Ueberlegung zur Erkenntniß des wahren Gottes zu erheben. Die Vernunft sagt uns, daß ein Mensch nur für die aus freiem Antriebe begangenen Fehler straffällig sei und daß eine Unwissenheit, die sich zu belehren nie Gelegenheit hatte, ihm nie als Verbrechen angerechnet werden könne. Hieraus ergibt sich, daß jeder Mensch, welcher glauben würde, wenn er die nöthigen Einsichten hätte, vor der ewigen Gerechtigkeit für gläubig angesehen wird, und daß die Strafe des Unglaubens nur diejenigen treffen wird, deren Herz sich der Wahrheit verschließt.
Nehmen wir uns in Acht, denen die Wahrheit zu verkündigen, die sie nicht zu verstehen im Stande sind, denn dadurch würden wir der Wahrheit gerade den Irrthum substituiren. Es wäre besser, von der Gottheit gar keineVorstellung zu haben, als sich von derselben eine niedrige, phantastische, sie herabwürdigende und ihrer unwürdige zu bilden. Es ist ein geringeres Uebel, von der Gottheit keine Kenntniß zu besitzen, als sie zu beleidigen. »Ich würde es vorziehen,« sagt der ehrenwerthe Plutarch, [20]
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