Emil oder Ueber die Erziehung
der Rhetorik kommen demjenigen, der sie nicht zu seinem Vortheile zu verwenden weiß, wie reines Geschwätz vor. Was kümmert es einen Schüler, zu wissen, wie Hannibal es angestellt hat, um seine Soldaten zur Überschreitung der Alpen zu bewegen? Wenn ihr ihm, anstatt ihn auf diese effectvollen Reden hinzuweisen, Anleitung gäbet, wie er es anfangen müsse, daß er seinen Schulmonarchen dahin bringen könne, ihm einen Urlaub zu bewilligen, so könnt ihr versichert sein, daß er euren Regeln eine größere Aufmerksamkeit schenken würde.
Hätte ich mir die Aufgabe gestellt, einen jungen Mann, dessen Leidenschaften schon sämmtlich entwickelt wären, in der Rhetorik zu unterrichten, so würde ich ihm unablässig nur solche Gegenstände vorführen, die seinen Leidenschaften angenehm wären, und ich würde mit ihm untersuchen, welche Sprache er Anderen gegenüber führen müsse, um sie zu vermögen, auf seine Wünsche einzugehen. Mein Emil befindet sich jedoch keineswegs in einer Lage, die der Redekunst sehr förderlich ist. Fast ausschließlich auf physische Bedürfnisse beschränkt, bedarf er weniger Anderer, als diese seiner; und da er von ihnen nichts für seine eigene Person zu erbitten hat, so berührt ihn das, wozu er sie überreden will, nicht in so hohem Grade, um ihn außerordentlich zu erregen. Daraus folgt, daß er sich für gewöhnlich einer einfachen und wenig bildlichen Sprache bedienen wird. Im Allgemeinen muß jedes seiner Worte im eigentlichen Sinne verstanden werden, und er redet ja auch nur, um sich verständlich zu machen. Er ist wenig sentenzenreich, weil ihm eine Verallgemeinerung seiner Ideen noch fremd ist. In seiner Rede kommen wenige Bildervor, weil er sich selten in leidenschaftlicher Aufregung befindet.
Dessenungeachtet ist er aber nicht völlig phlegmatisch und kalt, dies gibt weder sein Alter, noch seine Gewohnheiten, noch seine Geschmacksrichtung zu. Bei seinem jugendlichen Feuer versetzen die in seinem Blute zurückgehaltenen und zu wiederholten Malen destillirten Lebensgeister sein junges Herz in eine Wärme, die aus seinen Blicken hervorstrahlt, die man aus seinen Reden herausfühlt, die sich in seinen Handlungen kundgibt. In seiner Sprache macht sich eine gewisse Accentuation und bisweilen auch ein eigentümliches Feuer bemerkbar. Das edle Gefühl, welches ihn beseelt, verleiht ihr Kraft und Schwung. Von aufrichtiger Liebe zur Menschheit durchdrungen, spiegeln sich die Bewegungen seiner Seele in seinen Worten ab. Sein kühner Freimuth übt einen eigentümlichen Zauber aus, der ungleich wirkungsvoller ist, als die verschmitzte Beredsamkeit Anderer; oder vielmehr ist er allein wahrhaft beredt, da er nur zu zeigen braucht, was er fühlt, um in seinen Hörern dasselbe Gefühl wachzurufen.
Je mehr ich darüber nachsinne, desto mehr überzeuge ich mich davon, daß es wenig nützliche Kenntnisse gibt, die man nicht in dem Geiste eines Jünglings dadurch zu entwickeln vermöchte, daß man seinem Wohlthätigkeitssinne ein Feld der Thätigkeit einräumte und ihn dazu anhielte, aus den guten oder schlechten Folgen unserer Handlungen Rückschlüsse auf die zu Grunde liegenden Ursachen zu machen, und daß er neben dem wirklichen Wissen, das man in öffentlichen Anstalten einsammeln kann, sich außerdem noch eine weit wichtigere Wissenschaft erwirbt, nämlich die, von seinen Kenntnissen im Leben auch Gebrauch zu machen. Gewiß muß er bei seinem lebhaften Interesse für seine Nebenmenschen schon frühzeitig ihre Handlungen, ihre Neigungen, ihre Vergnügungen prüfen und würdigen lernen und das, was zum menschlichen Glücke beitragen oder dasselbe schädigen kann, weit richtiger nach seinem wahren Werthe auffassen, als diejenigen, welche bei ihrer völligen Theilnahmlosigkeit an dem Schicksale irgend Jemandes auch nie etwas für Andere thun. Diejenigen,welche sich immer nur mit ihren eigenen Angelegenheiten befassen, befinden sich in viel zu leidenschaftlicher Erregung, um die Dinge richtig beurtheilen zu können. Da sie Alles auf sich allein beziehen und die Begriffe von gut und böse nach ihrem alleinigen Interesse bestimmen, so setzen sie sich tausend lächerliche Vorurtheile in den Kopf, und erblicken in Allem, was ihren Vortheil nur im Geringsten schädigt, sofort den Zusammensturz des ganzen Weltalls.
Laßt uns unserer Eigenliebe eine Erweiterung auch auf andere Wesen geben. Wir werden sie dadurch in Tugend verwandeln, und es gibt kein Menschenherz, in welchem diese Tugend nicht wurzelt.
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