Emil oder Ueber die Erziehung
Je weniger der Gegenstand unserer Sorgen in unmittelbarem Zusammenhange mit uns selbst steht, desto weniger steht eine Täuschung unseres Sonderinteresses zu befürchten; je mehr man dieses Interesse verallgemeinert, desto mehr wird es zu einer billigen Beurtheilung veranlassen; und unsere Liebe zur Menschheit fällt mit der Liebe zur Gerechtigkeit zusammen. Wollen wir also, daß Emil die Wahrheit liebe, wollen wir, daß er sie erkenne, so dürfen sich seine Geschäfte nicht um seine eigene Person drehen. Je mehr seine Sorgen dem Glücke Anderer gewidmet sind, desto richtiger und weiser werden sie sein und desto weniger Täuschungen wird er sich über das, was gut oder böse ist, hingeben. Allein niemals laßt uns bei ihm eine blinde Bevorzugung dulden, die sich einzig und allein auf das Wohlgefallen an der Person oder auf ungerechte Vorliebe gründet. Und weshalb sollte er auch dem Einen schaden, um dem Andern zu nützen. Ihm verschlägt es wenig, wem ein größerer Glücksantheil zufällt, wofern er nur zum größtmöglichsten Glücke Aller mitwirkt. Dies ist nächst seinem eigenen Interesse das Hauptinteresse des Weisen, denn Jeder ist ein Theil seiner Gattung, und nicht eines anderen Individuums.
Um die Ausartung des Mitleids in Schwäche zu verhindern, muß man es folglich verallgemeinern und ihm eine Ausdehnung über das ganze Menschengeschlecht geben. Dann gibt man sich demselben nur insoweit hin, als es mit der Gerechtigkeit Hand in Hand geht, weil unter allen Tugenden die Gerechtigkeit gerade diejenige ist, welche zumallgemeinen Menschenwohl am meisten beiträgt. Aus Gründen der Vernunft, aus Liebe zu uns selbst, müssen wir mit unserer Gattung noch mehr Mitleid haben als mit unserem Nächsten, und das Mitleid mit den Bösen ist geradezu eine sehr große Grausamkeit gegen die Menschheit in ihrer Gesammtheit.
Uebrigens wolle man eingedenk bleiben, daß alle diese Mittel, durch welche ich meinen Zögling auf diese Weise gleichsam aus sich heraus versetze, trotzdem stets eine directe Beziehung auf ihn haben, weil ihm daraus nicht allein ein innerer Genuß erwächst, sondern weil ich auch, während ich seine Wohlthätigkeit zum Besten Anderer anrege, seine eigene Belehrung befördere.
Habe ich zuerst die Mittel angeführt, so will ich nun ihre Wirkungen auseinandersetzen. Von wie hohen Gesichtspunkten läßt er sich allmählich leiten! Welche erhabenen Empfindungen ersticken in seinem Herzen den Keim aller kleinlichen Leidenschaften! Welch klare Urtheilskraft, welch sicheres Denkvermögen sehe ich sich in ihm ausbilden durch seine auf alles Gute gerichteten Triebe und durch die Erfahrung, welche die Wünsche einer großen Seele in die engen Grenzen des Erreichbaren zusammendrängt und die Ursache ist, daß ein den Anderen überlegener Mensch sich auf ihren Standpunkt herabzulassen versteht, weil er außer Stande ist, sie zu sich emporzuheben. Die wahren Principien der Gerechtigkeit, die wahren Muster des Schönen, alle moralischen Beziehungen der Wesen, alle Ideen der Ordnung prägen sich seinem Verstande ein. Er kennt den Platz, den jedes Ding einnehmen muß, und die Ursache, die es von demselben entfernt; er kennt die Quellen des Guten, so wie die Hindernisse, die sich dem Guten entgegenstellen. Ohne die menschlichen Leidenschaften empfunden zu haben, sind ihm doch ihre Illusionen und ihr Spiel bekannt.
Unvermögend, der Gewalt der Gegenstände zu widerstehen, gehe ich weiter, ohne mich jedoch über das Urtheil der Leser auch nur im Geringsten im Unklaren zu befinden. Schon längst erblicken sie mich im Lande der Hirngespinnste, während ich sie nur im Lande der Vorurtheile sehe. Wennich mich auch in so hohem Grade von den gewöhnlichen Ansichten entferne, so sind dieselben meinem Geiste doch fortwährend gegenwärtig; ich untersuche sie und stelle Betrachtungen über sie an, nicht um sie mir als Richtschnur zu nehmen oder ihnen ängstlich aus dem Wege zu gehen, sondern um sie auf der Wage der Vernunft abzuwägen. So oft mich Letztere auch nöthigt, von ihnen abzuweichen, so gilt es für mich, da ich durch die Erfahrung belehrt bin, als eine abgemachte Sache, daß Niemand meinem Beispiele folgen werde. Ich weiß, daß sie, da sie sich durchaus nur das als möglich vorstellen können, was sie mit Augen wahrnehmen, den jungen Mann, welchen ich ihnen darstelle, für ein Wesen der Einbildung und Phantasie halten werden, weil er sich von denen, mit welchen sie ihn vergleichen, so wesentlich unterscheidet. Sie
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