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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Dunkelheit nur Wenige in ihrer ganzen Wirklichkeit zu erkennen vermögen, und welche für das Volk nur deshalb nichts Dunkles haben, weil ihm alles Verständniß für dieselben abgeht, wie, frage ich, sollen sie sich jungen Seelen, die noch von den ersten Sinnesäußerungen in Anspruch genommen werden und nur das zu begreifen im Stande sind, was sie mit Händen greifen können, in ihrer ganzen Stärke, d. h. in ihrer ganzen Dunkelheit darstellen? Umsonst öffnen sich die Abgründe der Unendlichkeit rings um uns her; ein Kind läßt sich dadurch nicht in Schrecken setzen; seine schwachen Augen vermögen ihre Tiefen nicht zu ergründen. Den Kindern gegenüber ist Alles unendlich, sie verstehen keiner Sache Grenzen zu setzen, nicht etwa weil sie einen zu großen Maßstab anlegen, sondern wegen der Unzulänglichkeit ihresVerstandes. Ich habe sogar die Beobachtung gemacht, daß sie das Unendliche weniger jenseits als diesseits des ihnen bekannten Raumes verlegen. Sie werden sich bei der Abschätzung eines unbegrenzten Raumes weit mehr auf ihre Füße als auf ihre Augen verlassen; er wird sich für sie nicht über die Grenzen ihrer Sehkraft, sondern nur über die Grenzen des Weges, den sie zurücklegen können, hinaus erstrecken. Erzählt man ihnen von der Allmacht Gottes, so werden sie ihn für beinahe eben so stark als ihren Vater halten. Da ihnen in allen Dingen das, was sie kennen, den Maßstab des Möglichen abgeben muß, so halten sie das, was man ihnen sagt, stets für geringer als das, was sie aus Erfahrung wissen. So lauten regelmäßig die Urtheile, welche Unwissenheit und Geistesschwache fällen. Ajax würde sich gefürchtet haben, sich mit dem Achill zu messen, fordert aber den Jupiter zum Kampfe heraus, weil er den Achill kennt, jedoch nicht den Jupiter. Ein schweizer Bauer, welcher sich für den reichsten Mann hielt, und dem man die Bedeutung eines Königs klar zu machen suchte, fragte mit stolzer Miene, ob ein König wol im Stande wäre, hundert Kühe auf den Bergen zu halten.
    Ich sehe voraus, wie viele meiner Leser die Wahrnehmung in Erstaunen setzen wird, daß ich das ganze erste Lebensalter meines Zöglings habe vorübergehen lassen, ohne mit ihm über Religion zu sprechen. Im Alter von fünfzehn Jahren wußte er noch nicht, daß er überhaupt eine Seele hat, und vielleicht braucht er es noch nicht einmal im achtzehnten Jahre zu lernen, denn wenn er es vor dem unumgänglich nöthigen Zeitpunkte lernt, läuft er Gefahr, es niemals zu erfahren.
    Wenn mir die Aufgabe gestellt wäre, die Dummheit in ihrer abstoßendsten Form zur Darstellung zu bringen, so würde ich einen pedantischen Schulfuchs malen, wie er Kindern Katechismusunterricht ertheilt; wenn ich ein Kind ganz närrisch machen wollte, würde ich es nöthigen, mir deutlich auseinander zu setzen, was es beim Hersagen des Katechismus eigentlich sage. Man wird mir den Einwurf machen, daß ja der größte Theil der christlichen Dogmen Geheimnisse seien und daß deshalb warten wollen, bis dermenschliche Geist die Fähigkeit erlangt habe, sie zu begreifen, nicht warten heiße, bis aus dem Kinde ein Mann geworden sei, sondern bis der Mensch aufgehört habe zu existieren. Hierauf entgegne ich erstlich, daß es Geheimnisse gibt, die es dem Menschen nicht nur unmöglich fällt zu begreifen, sondern auch zu glauben. Ich sehe in der That nicht ein, was man dadurch, daß man die Kinder mit denselben bekannt macht, anders erzielt, als daß man sie schon früh zum Lügen anhält. Weiter bin ich der Ansicht, daß man, will man Geheimnisse gelten lassen, wenigstens begreifen muß, daß sie unbegreiflich sind, Kinder sind aber nicht einmal dieses Gedankens fähig. Für das Alter, in welchem Alles Geheimniß ist, gibt es gar keine Geheimnisse im eigentlichen Sinne.

    Man muß glauben, um selig zu werden. Die falsche Auffassung dieses Dogmas ist die Quelle der blutgierigsten Intoleranz und die Ursache aller dieser nutzlosen Lehren, welche der menschlichen Vernunft den Todesstreich versetzen, indem dieselbe dadurch gewöhnt wird, sich mit Worten abspeisen zu lassen. Ohne Zweifel ist kein Augenblick zu verlieren, um der ewigen Seligkeit gewiß zu werden; ist aber zu ihrer Erlangung das Nachplappern gewisser Worte hinreichend, so sehe ich nicht ein, was uns abhält, den Himmel eben so gut mit Staarmätzen und Elstern als mit Kindern zu bevölkern.
    Die Pflicht zu glauben setzt die Möglichkeit dazu voraus. Der Philosoph, welcher nicht glaubt, begeht Unrecht, weil er von

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