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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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dieser Entschluß gereichte mir zum Verderben. Meine Achtung vor fremdem Ehebette mußte meine Fehltritte bald offenbar werden lassen. Das Aergerniß verlangte Sühne; gefänglich eingezogen, abgesetzt, verbannt,war ich mehr das Opfer meiner Gewissenhaftigkeit, als meiner Unkeuschheit, und aus den Vorwürfen, mit denen mein Vorgesetzter die Ungnade, welche er mir erklärte, begleitete, konnte ich sehr wohl abnehmen, daß man, um sich der Strafe zu entziehen, oft nur den Fehler zu verschlimmern braucht.
    Wenige Erfahrungen dieser Art genügen, einen Geist, der an Nachdenken gewöhnt ist, großer Gefahr auszusetzen. Da ich in Folge meiner traurigen Beobachtungen die Vorstellungen, die ich mir von Gerechtigkeit, Redlichkeit und allen menschlichen Pflichten gebildet hatte, umgestoßen sah, so verlor ich täglich irgend eine der Ansichten, die ich angenommen hatte. Diejenigen, welche mir noch blieben, waren unzulänglich, ein einheitliches Ganze zu bilden, das sich durch sich selbst hätte erhalten können. Ich fühlte, wie sich in meinem Geiste allmählich die Klarheit der Grundsätze verdunkelte, und da ich schließlich nicht mehr wußte, was ich denken sollte, so gelangte ich auf denselben Punkt, auf dem Sie sich jetzt befinden, lediglich mit dem Unterschiede, daß sich mein Unglaube, die spät gezeitigte Frucht eines reiferen Alters, unter ungleich größeren Leiden entwickelt hatte und schwieriger auszurotten sein mußte.
    Ich befand mich in jener Stimmung von Ungewißheit und Zweifel, welche Cartesius als eine Voraussetzung zur Erforschung der Wahrheit betrachtet. Ein solcher Zustand ist zu einer längeren Dauer nicht geeignet und ist eben so beunruhigend wie peinlich. Nur das Interesse an dem Laster oder die Trägheit des Geistes kann uns in demselben zurückhalten. Noch war mein Herz nicht verdorben genug, um darin Gefallen zu finden, und nichts erhält die Gewohnheit, nachzudenken, besser, als wenn man mit sich zufriedener als mit seinem Schicksale ist.
    Ich stellte also Betrachtungen über das traurige Loos der Sterblichen an, welche ohne einen anderen Führer, als einen unerfahrenen Steuermann, der die Fahrstraße nicht kennt und nicht weiß, von wannen er kommt, noch wohin er segelt, auf dem Meere der menschlichen Meinungen ohne Steuerruder, ohne Kompaß und ihren stürmischen Leidenschaften überlassen, dahintreiben. Ich sagte mir: Ichliebe die Wahrheit und suche sie, vermag sie aber nicht zu erkennen. Man zeige sie mir und ich werde ihr stets treu bleiben. Weshalb muß sie sich gerade dem eifrigen Entgegenkommen eines Herzens entziehen, welches dazu geschaffen ist, sie zu verehren?
    Obgleich ich oft noch größere Leiden erduldet habe, so habe ich doch nie ein so anhaltend unangenehmes Leben geführt, wie in dieser Zeit der Aufregung und peinlicher Unruhe, wo ich, unaufhörlich von einem Zweifel in den andern verfallend, als Frucht meines langen Nachdenkens nur Ungewißheit, Dunkelheit und Widersprüche über den Urgrund meines Daseins und über den Inhalt meiner Pflichten davontrug.
    Wie kann man nur systematisch und mit voller Aufrichtigkeit ein Zweifler sein? Mir ist es unbegreiflich. Solche Philosophen existiren entweder gar nicht oder müssen die unglücklichsten Menschen sein. Zweifel in Bezug auf Dinge, deren Kenntniß für uns durchaus wichtig ist, ruft einen für den menschlichen Geist allzu aufreibenden Zustand hervor. Er ist nicht im Stande, ihn lange auszuhalten. Wider Willen entscheidet er sich nach dieser oder jener Seite hin und will sich lieber täuschen als gar nichts glauben.
    Daß ich durch Geburt einer Kirche angehörte, welche Alles selbst entscheidet und keinen Zweifel duldet, trug wesentlich zur Vermehrung meiner Verlegenheit bei, weil ich durch Verwerfung eines einzigen Dogmas genöthigt wurde, auch alle übrigen zu verwerfen. Dazu kam, daß die Unmöglichkeit, eine so große Menge absurder Entscheidungen als richtig anzuerkennen, mir auch diejenigen verleidete, welche es nicht waren. Indem man von mir verlangte, Alles zu glauben, hielt man mich davon zurück, überhaupt etwas zu glauben, und ich wußte nicht mehr, wobei ich stehen bleiben sollte.
    Nun suchte ich bei den Philosophen Rath, durchblätterte ihre Werke, prüfte ihre verschiedenen Ansichten. Sämmtliche fand ich stolz, absprechend und selbst bei all ihrem vermeintlichen Skepticismus dogmatisch. Es ging ihnen alles Wissen ab, sie vermochten nichts zu beweisen undverspotteten sich gegenseitig, und dieser Punkt, der ihnen

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