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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Vorstellungen, so bleibt es deshalb doch immer wahr, daß diese Vorstellungen nicht ich sind.
    Alles nun, was ich außer mir wahrnehme und was auf meine Sinne wirkt, nenne ich Materie, alle Theile der Materie dagegen, die ich in Einzelwesen vereinigt sehe, nenne ich Körper. Deshalb sind alle Zänkereien der Idealisten und Materialisten für mich bedeutungslos; ihre Unterscheidungen in Bezug auf Schein und Wirklichkeit der Körper sind reine Einbildungen.
    Jetzt bin ich also vom Dasein des Weltalls schon ganz eben so fest überzeugt, wie von meinem eigenen. Hierauf denke ich über die Objecte meiner Empfindungen nach, und da ich mich mit der Fähigkeit ausgestattet finde, Vergleichungen unter ihnen anzustellen, so fühle ich mich mit einer activen Kraft begabt, deren Besitz mir vorher unbekannt war.
    Wahrnehmen heißt empfinden; vergleichen heißt urtheilen. Urtheilen und empfinden sind nicht identische Begriffe. Bei der Empfindung stellen sich mir die Gegenstände gesondert und einzeln dar, kurz so, wie sie wirklich in der Natur sind; bei der Vergleichung bewege und versetze ich sie gleichsam, lege ich sie auf einander, um über ihre Verschiedenheit oder Aehnlichkeit und überhaupt über alle ihre Verhältnisse meine Ansicht äußern zu können. Meiner Meinung nach zeigt sich das Unterscheidungsvermögen eines thätigen oder intelligenten Wesens darin, daß es im Stande ist, mit dem Worte »ist« einen Sinn zu verbinden. Bei einem rein sensitiven Wesen suche ich vergeblich diese geistige Kraft, welche erst vergleicht, ehe sie ihr Urtheil fällt; ich vermag nicht sie in der Natur desselbenzu entdecken. Ein solch passives Wesen wird jeden Gegenstand einzeln empfinden, es wird sogar den Totaleindruck eines Objects empfinden, das aus zwei Gegenständen zusammengesetzt ist, da es jedoch nicht die Fähigkeit besitzt, die einzelnen Bestandteile zusammenzustellen, so wird es sie nie vergleichen, sie nie beurtheilen.
    Zwei Gegenstände gleichzeitig sehen, heißt nicht auch sofort ihre gegenseitigen Beziehungen erkennen und sich ein Urtheil über ihre Verschiedenheiten bilden; verschiedene Gegenstände, einen hinter dem andern wahrnehmen, heißt noch nicht sie zählen. Ich vermag in demselben Augenblicke die Vorstellung von einem großen und von einem kleinen Stocke zu haben, ohne sie dabei zu vergleichen, ohne zu urtheilen, daß der eine kleiner als der andere ist, wie ich auf einmal meine ganze Hand sehen kann, ohne dabei die Finger zählen zu müssen. [22] Die vergleichenden Begriffe »größer«, »kleiner«, eben so wie die Zahlbegriffe »eins«, »zwei« u. s. w. gehören doch sicherlich nicht zu den Sinneswahrnehmungen, obgleich mein Geist sie nur gelegentlich meiner Sinneswahrnehmungen wachruft.
    Man sagt uns, daß ein empfindungsfähiges Wesen die Empfindungen durch die Unterschiede, welche sie unter einander haben, von einander unterscheide. Das erheischt wenigstens eine Erklärung. Sind die Empfindungen verschieden, so unterscheidet sie freilich das empfindungsfähige Wesen nach ihren Unterschieden, sind sie jedoch ähnlich, so unterscheidet es sie dadurch, daß es sie getrennt von einander wahrnimmt. Wie würde es wol sonst bei einer gleichzeitigen Empfindung zwei gleiche Gegenstände von einander zu unterscheiden vermögen? Es würde sie nothwendig unter einander verwechseln und eines für das andere halten, namentlich in einem Systeme, welches die Behauptung aufstellt, daß die die Ausdehnung vertretende Empfindung der Ausdehnung ermangele.
    Sobald die beiden zu vergleichenden Empfindungen wahrgenommen sind, so ist ihr Eindruck vollzogen; jeder Gegenstand ist für sich allein und beide sind gemeinschaftlich empfunden worden; aber damit ist ihr gegenseitiges Verhältnis noch nicht empfunden. Wenn das Urtheil über dies Verhältniß nur eine Empfindung wäre und dieselbe lediglich von dem Gegenstande in mir hervorgerufen würde, so würden mich auch meine Urtheile niemals täuschen können, da es ja niemals falsch ist, daß ich das empfinde, was ich empfinde.
    Weshalb täusche ich mich denn nun über das Verhältniß dieser beiden Stöcke, vorzüglich wenn sie nicht parallel sind? Weshalb behaupte ich z. B., daß die Länge des kleinen Stockes ein Drittel von der des großen ausmache, während sie doch in der That nur den vierten Theil der Länge desselben erreicht? Weshalb entspricht das Bild in mir, nämlich die Empfindung, nicht seinem Modell, dem Gegenstande selbst? Deshalb, weil ich bei meinem Urtheile activ

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