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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Allen gemeinsam war, schien mir auch der einzige zu sein, in Bezug auf welchen sie Alle Recht hatten. Siegestrunken beim Angriff, fehlt es ihnen bei der Verteidigung an aller Energie. Prüft ihr ihre Gründe, so zeigt es sich bald, daß sie nur solche anzuführen wissen, die zum Niederreißen dienen. Zählt ihr die Stimmen, so seid ihr durch die Entdeckung überrascht, daß nicht Zwei übereinstimmen. Sie gehen nur scheinbar einen Vergleich ein, um desto besser disputiren zu können. Auf sie zu hören, war für mich nicht das Mittel, von meiner Ungewißheit befreit zu werden.

    Ich sah ein, daß der erste Grund zu dieser erstaunlichen Meinungsverschiedenheit in der Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes, und der zweite in dem Hochmuthe liegt. Uns fehlt der Maßstab für diese unermeßliche Maschine, wir vermögen ihre Verhältnisse nicht zu berechnen und kennen weder ihre Grundgesetze noch ihren Endzweck. Ja, wir kennen uns nicht einmal selbst, kennen weder unsere Natur noch das in uns wirkende Princip. Kaum wissen wir, ob der Mensch ein einfaches oder zusammengesetztes Wesen ist; undurchdringliche Geheimnisse umringen uns von allen Seiten. Aber sie verbergen sich in Regionen, wohin unsere sinnlichen Wahrnehmungen nicht mehr dringen. Wir bilden uns ein, die Einsicht zu besitzen, um sie ergründen zu können, und haben doch nur Phantasie. Jeder bahnt sich durch diese eingebildete Welt einen Weg, der ihm der allein richtige zu sein scheint; aber Keiner vermag zu wissen, ob der seinige wirklich zum Ziele führt. Trotzdem wollen wir Alles erforschen, Alles erkennen. Das Einzige, was wir gar nicht begreifen können, ist, das, was wir nicht zu wissen im Stande sind, deshalb auch gar nicht, wissen zu wollen. Lieber entscheiden wir uns aufs Gerathewohl und glauben was nicht ist, als daß wir uns zu dem Zugeständniß bequemen, daß Keiner von uns das, was ist, zu erkennen vermöge. Obgleich wir nur der geringfügige Theil eines großen Ganzen sind, dessen Grenzen sich unseren Sinnen entziehen, und das sein Urheber unseren närrischen Zänkereien ruhig überläßt, so sind wir doch eitelgenug, uns die Entscheidung darüber anmaßen zu wollen, was dieses Ganze an sich ist und was wir unsererseits in Bezug auf dasselbe sind.
    Wären die Philosophen im Stande, die Wahrheit zu entdecken, wer unter ihnen würde sich dann noch für dieselbe interessiren? Jeder weiß vollkommen, daß sein System nicht besser begründet ist als die anderen; aber er hält es trotzdem aufrecht, weil es eben von ihm herrührt. Nicht Einen gibt es unter ihnen, der, wenn er sich wirklich bis zur Erkenntniß des Wahren und Falschen emporgeschwungen hat, nicht die Lüge, die er gefunden hat, der Wahrheit vorziehen sollte, welche von einem Andern entdeckt ist. Wo ist der Philosoph, der um seines Ruhmes willen nicht gern das menschliche Geschlecht täuschen würde? Wo ist derjenige, der, wenn er es sich auch selbst nicht einzugestehen wagt, einem anderen Ziele nachjagt, als dem sich auszuzeichnen? Gelingt es ihm nur, sich über den großen Haufen zu erheben, den Glanz seiner Nebenbuhler in Schatten zu stellen, was verlangt er dann noch mehr? Die Hauptsache ist, anders zu denken als Andere. Unter den Gläubigen spielt er die Rolle des Atheisten, unter den Atheisten würde er dagegen ein Gläubiger sein.
    Die erste Frucht, die ich aus diesen Erwägungen zog, bestand darin, daß ich meine Forschungen auf das, was für mich von unmittelbarem Interesse war, beschränken lernte, daß ich in Bezug auf alles Uebrige nicht aus meiner tiefen Unwissenheit herauszutreten suchte und mich nur über Dinge, deren Kenntniß für mich von unbestrittener Wichtigkeit war; bis zum Zweifel beunruhigte.
    Ferner wurde es mir klar, daß mich die Philosophen nicht nur nicht von meinen vergeblichen Zweifeln befreien, sondern im Gegentheile nur noch dazu beitragen würden, die, welche mich quälten, zu vermehren, während sie mir auch keinen einzigen lösen konnten. Deshalb sah ich mich nach einem andern Führer um und sagte zu mir: Ich will mir bei dem inneren Lichte Raths erholen; es wird mich weniger auf Irrthümer leiten als jene, oder mein Irrthum wird wenigstens mein eigener sein, und ich werdeweniger tief sinken, wenn ich meinen eigenen Irrthümern folge, als wenn ich mich den Lügen jener überlasse.
    Während ich mir nun die verschiedenen Meinungen, die mich seit meiner Geburt abwechselnd mit fortgerissen hatten, ins Gedächtniß zurückrief, sah ich ein, daß sie,

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