Emil oder Ueber die Erziehung
bin, weil die Operation, welche ich beim Vergleichen vornehme, mangelhaft ist, und weil mein Verstand, welcher die gegenseitigen Verhältnisse beurtheilt, seine Irrthümer der Wahrheit der Empfindungen beimischt, welche nur die Gegenstände an sich zeigen.
Füget hierzu noch eine Bemerkung, die euch, wie ich euch versichern kann, habt ihr sie erst wohl durchdacht, nicht wenig befremden wird, nämlich folgende: Würden wir beim Gebrauch unserer Sinne rein passiv bleiben, so würde zwischen ihnen gar keine Communication stattfinden. Es würde uns unmöglich sein, zu erkennen, ob der Körper, welchen wir berühren, und der Gegenstand, welchen wir erblicken, identisch sind. Entweder vermöchten wir nie etwas außer uns wahrzunehmen, oder es gäbe für uns fünf empfindungsfähige Substanzen, von deren Identität wir kein Mittel uns zu überzeugen hätten.
Gebe man nun dieser Kraft meines Geistes, welche meine Sinneseindrücke neben einander hält und vergleicht, diesen oder jenen Namen; nenne man sie Aufmerksamkeit, Nachdenken, Reflexion, oder wie man will, immer ist doch so viel wahr, daß sie ihre Stätte in mir und nicht in denDingen hat, daß ich allein es bin, der diese Operation vornimmt, wiewol ich sie nur bei Gelegenheit des Eindrucks anzustellen vermag, den die Gegenstände auf mich ausüben. Hängt es auch nicht von mir ab, zu empfinden oder nicht zu empfinden, so steht es doch in meiner Gewalt, das, was ich empfinde, mehr oder weniger einer Untersuchung zu unterwerfen.
Ich bin also nicht lediglich ein sinnliches und passives, sondern auch ein thätiges und intelligentes Wesen, und was auch die Philosophie dazu sagen möge, werde ich doch so dreist sein, auf die Ehre, zu denken, Anspruch zu machen. Bis jetzt weiß ich nur, daß die Wahrheit in den Dingen und nicht in meinem Geiste liegt, der ein Urtheil über dieselben abgibt, und daß ich, je weniger ich mich bei den Urtheilen, die ich zu fällen habe, von meinem Eigenen beeinflussen lasse, desto sicherer bin, der Wahrheit nahe zu kommen. Meine Regel, mich mehr der Empfindung als der Vernunft zu überlassen, wird also von der Vernunft selbst bekräftigt.
Nachdem ich mich nun erst gleichsam meiner selbst versichert habe, beginne ich außer mir selbst Umschau zu halten, und mit einer Art Schauder sehe ich mich in das unermeßliche Weltall hinausgeschleudert und in demselben wie verloren, sehe mich in dem unerschöpflichen Strome der Wesen wie ertränkt, ohne zu wissen, was sie an sich sind, noch in welcher Beziehung sie zu einander oder zu mir stehen. Ich studire und beobachte sie, und der erste Gegenstand, der sich mir zu einer Vergleichung mit ihnen darbietet, bin ich selbst.
Alles, was ich mit den Sinnen wahrnehme, ist Materie, und ich leite alle wesentliche Eigenthümlichkeiten der Materie von jenen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften her, durch welche sie sich mir bemerkbar macht, und welche untrennbar zu derselben gehören. Bald erblicke ich sie in Bewegung, bald in Ruhe, [23] woraus ich schließe, daß wederBewegung noch Ruhe als wesentliche Eigenschaften derselben zu betrachten sind, daß Bewegung, da sie sich als Thätigkeit äußert, nothwendig die Wirkung einer Ursache sein muß, deren Entfernung eben Ruhe ist. Sobald also auf die Materie keine Einwirkung ausgeübt wird, bewegt sie sich auch nicht, und gerade aus diesem Gründe, weil sie sich sowol gegen Ruhe als auch gegen Bewegung gleichgiltig verhält, muß man in der Ruhe ihren natürlichen Zustand erblicken.
Ich bemerke bei den Körpern zwei Arten von Bewegung, nämlich eine mitgetheilte und eine selbsttätige oder freiwillige. Bei der ersteren geht die bewegende Ursache nicht von dem bewegten Körper aus, bei der zweiten liegt sie in ihm selbst. Ich werde daraus indeß noch keineswegs schließen, daß z. B. die Bewegung einer Uhr eine freiwillige sei: denn wenn nicht etwas außerhalb der Feder Liegendes auf dieselbe einwirkte, so würde sie jenen unruhigen Trieb, sich wieder auszudehnen, nicht verrathen und also auch nicht an der Kette ziehen. Aus dem nämlichen Grunde werde ich den Flüssigkeiten, ja selbst dem Feuer, welches ihren flüssigen Zustand hervorbringt, eben so wenig eine ihnen innewohnende eigene Selbstthätigkeit zugestehen. [24]
Ihr werdet mich fragen, ob die Bewegungen der Thiere freiwillig sind; ich muß euch gestehen, daß ich es nicht weiß, daß aber die Analogie allerdings dafür spricht. Weiter werdet ihr mich fragen, woher ich denn wisse, daß es überhaupt
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