Emil oder Ueber die Erziehung
ungeachtet keine einzige von ihnen eine so unbestrittene Wahrheit enthielt, um unmittelbar zur Ueberzeugung zu verhelfen, doch verschiedene Stufen von Wahrscheinlichkeit hatten, und daß ich ihnen in sehr verschiedenem Maße meine Zustimmung gab oder versagte. Als ich nun im Anschluß an diese erste Beobachtung alle diese verschiedenen Ideen unter einander verglich, wobei ich den Vorurtheilen Schweigen gebot, machte ich die Wahrnehmung, daß die erste und allgemeinste auch die einfachste und vernünftigste war, und daß man ihr sicherlich beistimmen würde, wenn sie die zuletzt vorgetragene wäre. Stellt euch alle eure alten wie neueren Philosophen vor, wie sie ihre wunderlichen Systeme von vorn herein mit Kräften, Wahrscheinlichkeiten, Verhängniß, Notwendigkeit, Weltseele, belebter Materie, Materialismus aller Art verschwenderisch ausgestattet haben, und nach ihnen allen den berühmten Clarke, wie er die Welt erleuchtet und wie er schließlich das Wesen aller Wesen und den Urquell aller Dinge verkündigt. Mit welch allgemeiner Bewunderung, mit welch einmüthigem Beifall würde nicht dieses neue System begrüßt worden sein, das so groß, so tröstend, so erhaben, so geeignet ist, die Seele zu erheben und der Tugend eine sichere Basis zu geben, und gleichzeitig wieder so treffend, so klar, so einfach ist und das meines Erachtens dem menschlichen Geiste weniger Unbegreifliches zumuthet, als man in jedem anderen Systeme Widersinniges findet! Ich sagte mir: Unauflösbare Räthsel kommen in allen vor, weil eben der menschliche Geist zu beschränkt ist, um sie zu lösen; sie können deshalb gegen keines vorzugsweise als Beweis dienen. Aber welch ein Unterschied zwischen den directen Beweisen! Verdient nicht dasjenige allein den Vorzug, welches Alles erklärt, zumal wenn es nicht mehr Schwierigkeiten darbietet als die übrigen?
Da ich nun statt aller Philosophie Liebe zur Wahrheitund statt aller Methoden eine leichte und einfache Regel besitze, die mich der nichtigen Spitzfindigkeit der Beweise überhebt, so nehme ich nach dieser Regel noch einmal eine Prüfung der Kenntnisse vor, die für mich in Betracht kommen, entschlossen, alle diejenigen als erwiesen gelten zu lassen, denen ich in der Aufrichtigkeit meines Herzens meine Zustimmung nicht versagen kann, für wahr alle diejenigen zu halten, die mir mit diesen ersten in einem nothwendigen Zusammenhange zu stehen scheinen und alle übrige unentschieden zu lassen, ohne sie zu verwerfen oder sie anzunehmen, und ohne mich in Betreff ihrer Aufklärung abzuquälen, wenn sie nicht ein praktisches Resultat versprechen.
Allein wer bin ich? Was berechtigt mich dazu, über die Dinge zu urtheilen? Und was bestimmt meine Urtheile? Beruhen sie lediglich auf den augenblicklichen Eindrücken, die ich empfange, so gebe ich mir mit diesen Forschungen vergebliche Mühe. Sie finden entweder gar nicht statt, oder geschehen von selbst, ohne daß ich erst darauf auszugehen brauche, ihnen ihre Richtung vorzuschreiben. Es ist deshalb nöthig, daß ich meine Blicke zuerst auf mich selbst lenke, um das Werkzeug, dessen ich mich bedienen will, kennen zu lernen und mir darüber Gewißheit zu verschaffen, bis zu welchem Punkte ich mich bei seiner Anwendung auf dasselbe werde verlassen können.
Ich bin und besitze Sinne, vermittelst welcher ich Eindrücke erhalte. Das ist die erste Wahrheit, gegen die ich mich nicht verschließen kann und die ich mir gefallen lassen muß. Habe ich ein eigenes Gefühl meiner Existenz, oder werde ich mir derselben nur durch meine Sinneswahrnehmungen bewußt? Das ist mein erster Zweifel, dessen Lösung mir für jetzt unmöglich ist. Denn wie kann ich, da ich fortwährend, entweder unmittelbar oder durch das Gedächtniß Eindrücke erleide, wol wissen, ob diese Empfindung meiner selbst etwas mit diesen nämlichen Eindrücken nicht Zusammenfallendes ist, und ob sie von ihnen unabhängig zu sein vermag?
Meine Empfindungen gehen in mir vor, da sie in mir eine Empfindung meines Dasein hervorrufen; ihre Ursacheist mir jedoch unbekannt, denn sie afficiren mich ohne mein Zuthun, und es hängt von mir weder ab sie hervorzurufen, noch sie von mir fern zu halten. Ich sehe also deutlich ein, daß meine Empfindung, die in mir ist, und ihre Ursache oder ihr Object, das außer mir liegt, nicht ein und dasselbe ist.
Folglich existire nicht nur ich, sondern es existiren auch noch andere Wesen, nämlich die Objecte meiner Empfindungen, und wären diese Objecte auch nur
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