Emil oder Ueber die Erziehung
müßte diese kreisförmige Bewegung doch immer eine bestimmte Richtung verfolgen. Der Materie eine Bewegung durch Abstraction zuschreiben, heißt Phrasen ohne Sinn sprechen, und ihr eine bestimmte Richtung beilegen, heißt auch eine bestimmende Ursache annehmen. Bei jeder Vervielfältigung der besonderen Kräfte habe ich immer wieder neue Ursachen zu erklären, ohne daß ich doch je ein gemeinschaftliches, sie alle leitendes Agens entdecke. Während ich weit davon entfernt bin, mir irgend eine Ordnung in diesem zufälligen Zusammentreffen der Urelemente vorstellen zu können, vermag ich sie mir auch nicht einmal im gegenseitigen Kampfe zu denken, und so ist mir das Chaos des Weltalls noch unbegreiflicher als seine Harmonie. Ich finde es ganz begreiflich, daß Plan und Einrichtung der Welt dem Menschengeiste unverständlich sein kann, sobald sich aber ein Mensch unterfängt, sie uns zu erklären, muß er sich auch einer allgemein verständlichen Sprache bedienen.
Weist die bewegte Materie einen Willen nach, so deutet die nach bestimmten Gesetzen bewegte Materie auf einen Verstand hin. Dies ist mein zweiter Glaubensartikel. Handeln, vergleichen, wählen sind Operationen eines thätigen und denkenden Wesens. Jene zeigen sich überall, folglich existirt dieses Wesen. Woran nimmst du seine Existenz wahr? werdet ihr mich fragen. Nicht nur an den rollenden Himmelskörpern, an dem Gestirn, das uns das Tageslicht sendet; nicht nur an mir selbst, sondern auch an dem weidenden Schafe, dem fliegenden Vogel,dem fallenden Steine, dem welken Blatte, dem Spiele der Winde.
Ich fälle über die Ordnung der Welt ein Urtheil, obgleich mir ihr Endzweck unbekannt ist, weil es zur Beurtheilung dieser Ordnung für mich hinreicht, die einzelnen Theile unter einander zu vergleichen, ihr Zusammenwirken und ihre Beziehungen zu studiren und sich von ihrer Harmonie zu überzeugen. Ich weiß nicht, weshalb das Weltall da ist, aber ich werde nicht müde, die Veränderungen zu beobachten, welche in ihm vorgehen, werde nicht müde, mich an dem Anblick der innigen Beziehungen zu erfreuen, welche die Wesen dieser Welt antreibt, sich gegenseitig Hilfe zu leisten. Ich komme mir wie ein Mensch vor, der zum ersten Male eine geöffnete Uhr sieht und nicht aufhören kann, das Werk zu bewundern, obgleich ihm der Gebrauch des Kunstwerks unbekannt ist und er das Zifferblatt noch nicht gesehen hat. Ich weiß freilich nicht, wird er sagen, welchen Nutzen es bringt; allein ich sehe, daß alle Theile vollkommen zu einander passen; ich vermag dem Künstler für die vollendete Ausführung aller einzelnen Theile meine Bewunderung nicht zu versagen und halte mich völlig überzeugt, daß der gleichmäßige Gang aller dieser Räder nur einem gemeinschaftlichen Zwecke dient, welchen zu erkennen mir unmöglich ist.
Laßt uns die besonderen Zwecke, die Mittel, die geregelten Verhältnisse jeder Art vergleichen und dann der Stimme des inneren Gefühls Gehör geben. Welcher gesunde Geist wird nicht gern auf ihr Zeugniß achten? Welchem unbefangenen Blicke verkündigt nicht die augenscheinliche Ordnung des Weltalls eine höchste geistige Kraft? Und welcher Aufwand von Sophismen ist nicht nöthig, um die Harmonie der Wesen und das meisterhafte Zusammenwirken jedes einzelnen Theiles zur Erhaltung der übrigen zu verkennen! Rede man mir von Combinationen und Wechselfällen so viel man will vor, welchen Nutzen könnt ihr euch davon versprechen, mich zum Schweigen zu bringen, wenn ihr mich nicht zu überzeugen im Stande seid? Und wie wollt ihr das unwillkürliche Gefühl in mir zurückdrängen, welches euch wider meinen WillenLügen straft? Wenn die organischen Körper wirklich auf tausenderlei Weise durch bloßen Zufall eine Verbindung mit einander eingegangen sind, wenn sich Anfangs Magen ohne Mund, Füße ohne Kopf, Hände ohne Arme, kurz allerlei unvollkommenen Gliedmaßen gebildet haben, die, unvermögend sich zu erhalten, wieder zu Grunde gegangen sind, weshalb begegnet denn keiner dieser mißglückten Versuche jetzt mehr unseren Blicken? Weshalb hat sich endlich die Natur Gesetze auferlegt, welchen sie von Anfang an nicht unterworfen war? Es darf mich zwar nicht überraschen, daß etwas an sich Mögliches geschieht, wenn die Schwierigkeit der Ausführung durch die Menge der Versuche aufgewogen ist; das unterschreibe ich gern. Wenn man mir jedoch vorreden wollte, daß zufällig zusammengeworfene Buchdruckerlettern die Aeneide in der Vollendung, in welcher sie vorliegt,
Weitere Kostenlose Bücher