Emil oder Ueber die Erziehung
er, ohne sich zu verderben, auch nicht aufhören, es zu sein, und die Güte schlägt bei ihm dann zu einem Verbrechen gegen die Natur um. Geschaffen seinen Mitmenschen Schaden zuzufügen, wie der Wolf, seine Beute zu erwürgen, würde ein unter solchen Umständen Menschlichkeit verratender Mensch ein eben so entartetes Geschöpf sein, wie ein Erbarmen übender Wolf, und nichts als die Tugend würde Gewissensbisse in uns wachrufen.
Halten wir in uns selbst Einkehr, mein junger Freund, prüfen wir einmal, mit Beiseitesetzung alles persönlichen Interesses, wozu uns unsere Neigungen treiben. Was für ein Anblick ruft angenehmere Gefühle in uns hervor, der der Qualen oder des Glückes Anderer? Welche Handlungen bereiten uns die größte Freude und lassen den wohlthuendsten Eindruck in uns zurück, ein Act der Wohlthätigkeit oder ein Act der Bosheit? An wem nehmen wir auf unseren Theatern den regsten Antheil? Erfüllen uns die Frevelthaten mit Vergnügen? Fließen unsere Thränen für die bestraften Missethäter? Alles, behauptet man, sei uns gleichgültig, unsern eigenen Vortheilausgenommen; und gerade im Gegentheile tröstet uns in unseren Leiden die Süßigkeit der Freundschaft und der Nächstenliebe, und sogar mitten in unseren Vergnügungen würde uns das Gefühl einer nur allzu großen Vereinsamung und des Elends beschleichen, wenn wir Niemanden hätten, mit dem wir sie zu theilen vermöchten. Wenn im Menschenherzen nichts von Moral vorhanden ist, was ist dann die Ursache jener hohen Bewunderung heldenmüthiger Thaten und jener begeisterten Liebe zu großen Seelen? Welche Beziehung kann zwischen diesem Enthusiasmus für die Tugend und unserem Sonderinteresse stattfinden? Weshalb möchte ich lieber Cato sein, der seine Eingeweide zerreißt, als der triumphirende Cäsar? Nehmt aus unseren Herzen diese Liebe zum Schönen, und ihr nehmt damit zugleich dem Leben allen Reiz. Derjenige, in dessen beschränkter Seele verächtliche Leidenschaften diese köstlichen Gefühle erstickt haben, derjenige, welcher es in seinem Streben, sich nur auf sich selbst zu beschränken, endlich so weit gebracht hat, nur noch sich allein zu lieben, geht freudenleer durch das Leben. Nie schlägt sein kaltes Herz mehr vor Wonne, nie feuchten Thränen süßer Rührung mehr sein Auge, nie hat er sich eines wahren Genusses mehr zu erfreuen. Der Unglückliche fühlt nicht mehr, lebt nicht mehr; er ist bereits todt.
Wie groß indeß auch immer die Zahl der Bösen auf Erden sein mag, so gibt es trotzdem nur wenige solcher völlig gefühllosen Herzen, welche, mit Ausnahme ihres eigenen Interesses, für Alles, was gerecht und gut ist, unempfindlich geworden sind. Die Ungerechtigkeit ist uns nur in dem Falle angenehm, daß wir Vortheil aus ihr ziehen; in jedem anderen hegt man den Wunsch, daß der Unschuldige in Schutz genommen werde. Gewahren wir in einer Straße oder sonst auf einem Wege einen Act der Gewalt oder Ungerechtigkeit, so steigt augenblicklich eine Regung des Zornes und des Unwillens in uns empor und treibt uns an, die Partei des Unterdrückten zu ergreifen; allein eine mächtigere Pflicht hält uns zurück, denn die Gesetze entziehen uns das Recht, die Unschuld zu beschützen. Sind wir dagegen Zeugen eines Actes derGüte oder des Edelmuthes, welche Bewunderung, welche Liebe flößt er uns ein! Wer würde nicht zu sich selber sagen: So möchte ich auch gehandelt haben! Es kann uns sicherlich höchst wenig kümmern, ob ein Mensch vor zweitausend Jahren schlecht oder gerecht gewesen ist, und nichts desto weniger fesselt uns die alte Geschichte in dem nämlichen Grade, als ob sich alle Ereignisse derselben in unseren Tagen zugetragen hätten. Was habe ich mit dem Verbrechen des Catilina zu schaffen? Kann ich etwa Besorgniß hegen, sein Opfer zu werden? Warum habe ich also vor ihm denselben Abscheu, der mich vor ihm erfüllen würde, wenn er mein Zeitgenosse wäre? Wir hassen die Bösen nicht allein um deswillen, daß sie uns Schaden zufügen, sondern weil sie böse sind. Wir wünschen nicht allein selbst glücklich zu sein, sondern wünschen auch das Glück Anderer, und sobald dieses Glück das unserige nicht beeinträchtigt, so trägt es zur Erhöhung unseres eigenen bei. Kurz man hat, mag man wollen oder nicht, Mitleid mit den Unglücklichen; man leidet mit, wenn man Zeuge ihrer Leiden ist. Selbst die Gesunkensten können sich von diesem Triebe nicht völlig frei machen; oft setzt er sie mit sich selbst in Widerspruch. Der Räuber,
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