Emil oder Ueber die Erziehung
Schuld, nicht er. Der sich in der moralischen Welt kundgebende Zwiespalt, welcher in den Augen der Philosophen gegen die Vorsehung zeugt, gilt in den meinigen gerade als ein Beweis für dieselbe. Während aber die Gerechtigkeit des Menschen Jedem gibt, was ihm gebührt, fordert die Gerechtigkeit Gottes von Jedem Rechenschaft über das, was er ihm gegeben hat.
Wenn ich so stufenweise zur Entdeckung dieser Eigenschaften gelange, von welchen ich keine absolute Vorstellung habe, so geschieht es doch nur durch künstliche Schlußfolgerungen, durch die richtige Anwendung meiner Vernunft; aber trotzdem nehme ich sie an, wenn ich sie auch nicht zu fassen vermag, und das heißt doch eigentlich nichts annehmen. Vergeblich sage ich zu mir: So ist Gott, ich fühle es, ich trage den Beweis in mir, trotzdem begreife ich doch nicht besser, wie Gott so sein kann.
Kurz, je mehr ich mich bemühe, mich zum Anschauen seines unendlichen Wesens zu erheben, desto weniger vermagich es zu begreifen. Aber es ist, das ist für mich genügend; je weniger ich es begreife, desto mehr bete ich es an. In Demuth spreche ich zu ihm: Wesen aller Wesen, ich bin, weil du bist. Wenn meine Gedanken unaufhörlich bei dir weilen, erhebe ich mich zur Quelle meines Daseins. Ich mache den würdigsten Gebrauch von meiner Vernunft, wenn ich sie vor dir schweigen lasse. Es ist Wonne für meinen Geist, ein zauberhafter Reiz für meine Schwachheit, mich von deiner Größe überwältigt zu fühlen.
Nachdem ich nun auf diese Weise die Hauptwahrheiten, deren Kenntniß für mich von Wichtigkeit ist, aus dem Eindrucke der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände und aus dem inneren Gefühle, welches mich antreibt, mich bei der Beurtheilung der Ursachen von meinen natürlichen Einsichten leiten zu lassen, gefolgert habe, so bleibt mir noch zu untersuchen übrig, welche Grundsätze ich daraus für meinen Wandel herzuleiten habe und welche Regeln ich mir vorschreiben muß, um meine Bestimmung hienieden nach den Absichten dessen zu erfüllen, der mir meinen Platz auf Erden angewiesen hat. Treu meiner bisherigen Methode, entnehme ich diese Regeln durchaus nicht den Principien einer erhabenen Philosophie, sondern ich finde sie im Grunde meines Herzens von der Natur mit unauslöschlichen Zügen eingegraben. Ich habe über das, was ich thun will, nur mich selbst zu befragen; Alles, von dem mir mein Gefühl sagt, daß es gut ist, ist auch wirklich gut; Alles, was mein Gefühl schlecht nennt, ist schlecht. Der beste aller Gewissensräthe ist das Gewissen, und erst dann, wenn man mit ihm feilschen will, muß man zu Spitzfindigkeiten seine Zuflucht nehmen. Die erste aller Sorgen, die den Menschen beschäftigt, ist die Sorge für sich selbst. Wie oft raunt uns indeß eine Stimme zu, daß wir Unrecht handeln, wenn wir unser Wohl auf Kosten Anderer zu gründen suchen! Wir wähnen dem Antriebe der Natur zu folgen und setzen ihr im Gegentheile Widerstand entgegen; indem wir nur auf das hören, was sie unseren Sinnen sagt, setzen wir das hintan, was sie unserem Herzen sagt. Das active Sein gehorcht, das passive Sein befiehlt. Das Gewissen ist die Stimme der Seele,die Leidenschaften sind die Stimme des Körpers. Kann es uns überraschen, daß diese beiden Stimmen sich oft im Widerstreit befinden? Und auf welche von ihnen soll man alsdann hören? Nur zu oft täuscht uns die Vernunft, und wir haben deshalb das unveräußerliche Recht, uns ihren Nachschlagen nicht zu fügen; das Gewissen täuscht uns dagegen niemals; es ist der wahre Führer des Menschen; was der Instinct für den Körper, ist das Gewissen für die Seele. [31] Wer sich von ihm leiten läßt, gehorcht der Natur und braucht nicht zu befürchten, sich zu verirren. Dieser Punkt, fuhr mein Wohlthäter fort, als er bemerkte, daß ich im Begriff stand, ihn zu unterbrechen,ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Erlauben Sie, daß ich bei der Erläuterung desselben noch etwas länger stehen bleibe.
Die ganze Moralität unserer Handlungen beruht auf dem Urtheile, welches wir uns selbst über dieselben bilden. Wenn es wahr ist, daß das Gute gut ist, so muß es dies im Grunde unserer Herzen eben so wie in unseren Werken sein, und der erste Lohn der Gerechtigkeit liegt in dem Gefühle, daß man sie geübt hat. Wenn die moralische Güte mit unserer Natur in Einklang steht, so kann der Mensch nur in so weit geistig gesund und kräftig sein, als er gut ist. Ist dies jedoch nicht der Fall, ist vielmehr der Mensch böse, so vermag
Weitere Kostenlose Bücher