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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Systeme, welches durch die doppelte Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu seinen Nebenmenschen gebildet wird. Das Gute erkennen, heißt noch nicht es lieben; der Mensch hat davon keine angeborene Kenntniß; sobald er es indeß mit Hilfe seiner Vernunft erkennt, so treibt ihn sein Gewissen an, es zu lieben, und dies Gefühl gehört zu den uns angeborenen.
    Ich bin deshalb der Ansicht, junger Freund, daß es nicht unmöglich ist, das unmittelbare Princip des Gewissens, selbst unabhängig von der Vernunft, nur aus unserer Natur zu erklären. Würde dies sich als unmöglich herausstellen, so würde es auch gar nicht einmal nothwendig sein; denn da diejenigen, welche dies von dem ganzen Menschengeschlecht angenommene und anerkannte Princip in Abrede stellen, sich auf keinen Beweis einlassen, daß es nicht existirt, sondern sich mit der vagen Behauptung begnügen, so können wir mit ganz demselben Rechte behaupten, daß es existirt, und uns noch außerdem auf das innere Zeugniß und die Stimme des Gewissens berufen, welches für sich selbst zeugt. Wenn der erste Schimmer des Urtheils uns blendet, so daß sich die Gegenstände unseren Blicken Anfangs nur in verschwommenen Umrissen zeigen, so wollen wir warten, bis sich unsere schwachen Augen wieder öffnen und erst kräftiger werden, und bald werden wir die nämlichen Gegenstände im Lichte der Vernunft wieder so erblicken, wie sie uns die Natur von Anfang an zeigte. Oder wir wollen vielmehr einfacher und weniger eitel sein, wollen uns auf die ursprünglichen Empfindungen, die wir in uns finden, beschränken, weil sie es sind, auf welche uns unsere Ueberlegung stets wieder zurückführt, wenn sie uns nicht etwa auf Irrthümer geleitet hat.
    Gewissen, Gewissen! O du göttlicher Instinct, ewige und himmlische Stimme, du zuverlässiger Führer eines zwar unwissenden und beschränkten, aber intelligenten und freien Wesens, du unfehlbarer Richter über Gut und Böse, der du dem Menschen Gottähnlichkeit verleihst, dir hat er die Vollkommenheit seiner Natur und die Sittlichkeit seiner Handlungen zu verdanken. Ohne dich empfinde ichnichts in mir, was mich über die Thiere erhebt, als das traurige Vorrecht, in Folge eines regellosen Verstandes und einer grundsatzlosen Vernunft von Irrthum zu Irrthum zu taumeln.
    Gott sei Dank, haben wir mit all diesem Schrecken erregenden Apparate der Philosophie nichts zu schaffen; wir können Menschen sein, ohne Gelehrte zu sein. Da es uns erspart ist, unser Leben mit dem Studium der Moral hinzubringen, können wir mit ungleich geringerem Aufwande einen weit sichereren Führer durch dieses unermeßliche Gewirr der menschlichen Meinungen erhalten. Indessen genügt es nicht, daß dieser Führer vorhanden ist, man muß ihn auch als solchen anerkennen und ihm zu folgen verstehen. Wie kommt es, wenn er zu allen Herzen redet, daß es doch so Wenige gibt, die auf ihn hören? Nur deshalb, weil er die Sprache der Natur zu uns redet, welche wir nicht mehr verstehen, da Alles dazu beigetragen hat, sie uns vergessen zu lassen. Das Gewissen ist schüchtern; es liebt die Zurückgezogenheit und den Frieden; die Welt und ihr Geräusch schüchtern es ein. Die Vorurtheile, in deren Begleitung es erwacht, sind seine grausamsten Feinde. Es flieht oder verstummt vor ihnen. Ihre lärmende Stimme übertönt die seinige und hindert sie, sich vernehmbar zu machen. Der Fanatismus unterfängt sich, dem Gewissen nachzuäffen und im Namen desselben zum Verbrechen aufzufordern. Werden seine Mahnungen zu häufig unbeachtet gelassen, so verliert es endlich den Muth; es spricht nicht mehr zu uns und antwortet uns nicht mehr, und nachdem es sich so lange eine verächtliche Behandlung hat gefallen lassen müssen, gehört nicht weniger Mühe dazu, es wieder zum Reden zu bringen, als es gekostet hat, ihm Schweigen aufzuerlegen.
    Wie oft wurde ich nicht bei meinen Untersuchungen von der Kälte, die ich in mir fühlte., auf das Unangenehmste berührt! Wie oft spritzten nicht Traurigkeit und Ueberdruß ihr Gift in meine wichtigsten Betrachtungen und machten sie mir dadurch unerträglich! Mein vertrocknetes Herz schenkte der Liebe zur Wahrheit nur einen matten und lauen Eifer. Ich sprach zu mir: Weshalb soll ichmich abquälen, nach etwas zu forschen, was gar nicht vorhanden ist? Das moralisch Gute beruht nur in der Einbildung, es gibt nichts Gutes als den Sinnengenuß. O, wie schwer ist es doch, wieder Geschmack an den Freuden der Seele zu gewinnen, wenn man ihn erst einmal

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