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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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seltsame Gebräuche, die aus örtlichen, uns unbekannten Gründen hervorgegangen sind, die allgemeine aus der Übereinstimmung aller Völker abgeleitete Folgerung umstoßen können? Mögen auch die Völker in allem Uebrigen verschieden sein, so herrscht doch in diesem Punkte eine vollkommene Einstimmigkeit. O Montaigne, der du dich immer mit solchem Stolze deines Freimuths und deiner Wahrheitsliebe rühmst, sei aufrichtig und wahr, wenn es einem Philosophen überhaupt möglich ist, und sage mir, ob es irgend ein Land auf Erden gibt, wo es Einem zum Verbrechen angerechnet wird, sein Wort zu halten, gütig, wohlthätig und edelmüthig zu sein, wo der Ehrliche verachtet und der Treulose geehrt wird?
    Jeder, behauptet man, trägt aus eigenem Interesse zumallgemeinen Besten bei. Woher kommt es denn aber, daß der Gerechte zu seinem eigenen Schaden dazu beiträgt? Was soll das heißen, aus eigenem Interesse in den Tod gehen? Allerdings bezweckt Jeder bei seinen Handlungen nur sein eigenes Beste. Wenn es indeß nicht auch ein moralisches Beste gibt, welches hierbei ebenfalls berücksichtigt werden muß, so wird man aus dem eigenen Interesse immer nur die Handlungen der Bösen erklären können; es ist sogar glaubhaft, daß man gar nicht erst den Versuch machen wird, darüber hinauszugehen. Traurig wäre es aber um eine Philosophie bestellt, welche durch tugendhafte Handlungen in Verlegenheit geriethe, die sich nur dadurch aus derselben zu ziehen vermöchte, daß sie ihnen niedrige Gesinnungen und unlautere Beweggründe andichtete, und nach deren Grundsätzen man sich genöthigt sähe, Sokrates herabzuwürdigen und Regulus zu verleumden. Wenn unter uns je ähnliche Lehren Eingang fänden, so würde sich die Stimme der Natur wie die Stimme der Vernunft augenblicklich gegen sie erheben und niemals gestatten, daß sich auch nur ein einziger ihrer Anhänger damit entschuldigen dürfte, er hätte es aufrichtig gemeint.
    Es liegt nicht in meiner Absicht, hier auf metaphysische Untersuchungen einzugehen, die meine Fassungskraft nicht weniger als die Ihrige übersteigen und im Grunde genommen zu nichts führen. Ich habe Sie bereits darauf aufmerksam gemacht, daß ich mit Ihnen nicht philosophiren, sondern Ihnen nur Anleitung geben will, Ihr eigenes Herz zu berathen. Wenn alle Philosophen der Welt Ihnen den Beweis lieferten, daß ich Unrecht hätte, Ihr Gefühl Ihnen aber sagte, ich hätte Recht, so würde ich nicht mehr begehren.
    Zu diesem Zwecke ist nichts weiter nöthig, als daß Sie lernen, unsere erworbenen Ideen von unseren natürlichen Empfindungen zu unterscheiden, denn unserer Erkenntniß geht nothwendigerweise unsere Empfindung vorher, und wie wir nicht erst zu lernen brauchen, unser eigenes Beste zu wollen und das, was uns Schaden zufügt, zu fliehen, sondern diesen Trieb der Natur verdanken, so ist uns auchdie Liebe zum Guten und der Haß gegen das Böse eben so natürlich wie die Liebe zu uns selbst. Die Thätigkeit des Gewissens äußert sich nicht in Urtheilen, sondern in Empfindungen. Obgleich uns alle unsere Vorstellungen von Außen zugeführt werden, so liegen doch die Empfindungen, die ihnen erst ihren eigentlichen Werth beilegen, in uns selbst, und nur durch sie erkennen wir die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, die zwischen uns und den Dingen, welche wir suchen oder fliehen müssen, stattfindet.
    Ein Dasein haben, heißt empfinden. Unsere Empfindung geht unstreitig unserer Intelligenz vorauf, und wir haben Empfindungen vor den Ideen gehabt. [32] Welches auch immer die Ursache unseres Daseins sein möge, so hat sie dadurch für unsere Erhaltung Sorge getragen, daß sie uns Empfindungen gab, die mit unserer Natur im Einklang stehen, und man wird nicht läugnen können, daß wenigstens diese angeboren sind. Diese Empfindungen sind, so weit sie das Individuum selbst anlangen, die Liebe zu sich selbst, die Furcht vor dem Schmerze, das Grausen vor dem Tode, das Verlangen nach Wohlbefinden. Wenn aber, was unzweifelhaft feststeht, der Mensch seiner Natur nach gesellig ist, oder es wenigstens seiner Bestimmung nach werden soll, so können ihm auch andere angeborene Empfindungen nicht fehlen, die sich auf sein Geschlecht beziehen; denn schenkt man nur dem physischen Bedürfnisse Beachtung, so muß man zugeben, daß dieses sicherlich eher geeignet ist, die Menschen von einander zu führen, als eine Annäherung unter ihnen zu Wege zu bringen. Folglich hat der Impuls des Gewissens seine Quelle in demmoralischen

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