Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
gewesen bin, wenn ich mich nicht zugleich auch dessen erinnerte, was ich gefühlt, und folglich auch dessen, was ich gethan habe. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß gerade in dieser Erinnerung dereinst das Glück der Guten und die Qual der Bösen bestehen wird. Hienieden beschäftigen tausend glühende Leidenschaften das innere Gefühl und schläfern das Gewissen ein. Die Demütigungen und Widerwärtigkeiten, welche die Ausübung der Tugend in ihrem Gefolge hat, verhindern uns, alle Reize derselben zu empfinden. Wenn wir aber, von den Täuschungen befreit, die der Körper und die Sinne in uns hervorrufen, das höchste Wesen schauen und die ewigen Wahrheiten, deren Urquell es ist, erkennen werden, wenn die Schönheit der Weltordnung alle unsere Seelenkräfte erheben wird, und wenn wir ausschließlich damit beschäftigt sein werden, das, was wir gethan haben, mit dem zu vergleichen, was wir hätten thun sollen: dann wird die Stimme des Gewissens ihre Kraft und Herrschaft wieder erlangen, dann wird sich in der reinen Freude, die aus der Zufriedenheit mit sich selbst entsteht, und in der bittern Reue darüber, so tief gesunken zu sein, durch unerschöpfliche Empfindungen deutlich das Schicksal zu erkennen geben, welches sich ein Jeder bereitet hat. Fragen Sie mich nicht, mein geliebter Freund, ob es auch noch andere Quellen des Glücks und der Qual gibt; ich weiß es nicht. Allein schondiejenige, welche ich mir vorstelle, reicht hin, um mir in diesem Leben Trost zu geben und mich ein anderes hoffen zu lassen. Ich behaupte durchaus nicht, daß die Guten werden belohnt werden, denn welch anderes Gut kann wol ein so reich begabtes Wesen erwarten, als seiner Natur gemäß fortzuleben? Indeß behaupte ich, daß sie glücklich sein werden, weil ihr Schöpfer, der Ausfluß aller Gerechtigkeit, der ihnen Empfindung gegeben, sie nicht zum Leiden geschaffen hat, und weil sie außerdem, da sie mit ihrer Freiheit auf Erden keinen Mißbrauch getrieben haben, ihre Bestimmung nicht durch eigene Schuld verscherzt haben. Sie haben jedoch in diesem Leben gelitten und werden nun dafür in einem andern entschädigt werden. Diese Ansicht gründet sich weniger auf das menschliche Verdienst, als vielmehr auf die Vorstellung der Güte, die mir vom göttlichen Wesen untrennbar zu sein scheint. Ich setze dabei nur voraus, daß die Gesetze der Weltordnung beobachtet werden und Gott unveränderlich ist. [30]
    Fragen Sie mich auch nicht, ob die Qualen der Bösen ewig dauern werden, und ob es ein Beweis der Güte ihres Schöpfers ist, sie zu ewigen Qualen zu verdammen. Auch dieses ist mir unbekannt, und ich bin von der eitlen Neugier frei, über solche nutzlose Fragen Licht zu verbreiten. Was geht mich das Loos der Bösen an? Ich nehme wenig Antheil an ihrem Schicksale. Dessenungeachtet kann ich mich nicht mit dem Gedanken befreunden, daß sie zu endlosen Qualen verdammt sein sollten. Wenn die höchste Gerechtigkeit Rache ausübt, so nimmt sie schon in diesem Leben ihren Anfang. Ihr selbst, ihr Völker, seid mit euren Irrthümern ihre Vollstrecker. Die Uebel, die ihr euch zufügt, bilden die Strafe für die Verbrechen, durch welche jene hervorgerufen sind. In euren unersättlichen, von Neid, Habsucht und Ehrgeiz verzehrten Herzen strafen die vergeltenden Leidenschaften eure Frevel inmitten eures scheinbaren Glücks. Weshalb sollen wir die Hölle erst in einemandern Leben suchen? Schon in diesem Leben ist sie im Herzen der Bösen zu finden.
    Wo unsere vergänglichen Bedürfnisse endigen, wo unsere unsinnigen Lüste aufhören, müssen auch unsere Leidenschaften schweigen und unsere Verbrechen ein Ende nehmen. Welcher Verderbtheit könnten Geister, die ihres Körpers entkleidet sind, noch fähig sein? Weshalb sollten sie böse sein, da sie keine Bedürfnisse mehr fühlen? Wenn sie, von unserer groben Sinnlichkeit befreit, all ihr Glück einzig und allein im Anschauen der Wesen finden, so sind sie nur im Stande das Gute zu wollen, und ist es wol möglich, daß derjenige, welcher nicht mehr in das Böse willigt, für immer elend sein sollte? Diese Ansicht sagt mir am meisten zu, ohne daß ich mir jedoch die Mühe nehme, ein endgiltiges Urtheil darüber abgeben zu wollen. O gnädiges und gütiges Wesen! Was auch immer deine Ratschlüsse sein mögen, ich verehre sie. Wenn du die Bösen ewig strafst, so erkennt meine schwache Vernunft in Demuth deine Gerechtigkeit an. Wenn jedoch die Gewissensbisse dieser Unglücklichen im Laufe der Zeit schwächer

Weitere Kostenlose Bücher