Emil oder Ueber die Erziehung
werden, und ihre Leiden ein Ende nehmen sollten, wenn uns dereinst Alle ohne Unterschied der gleiche Friede erwartete, so will ich dich dafür preisen. Muß ich nicht auch im Bösen meinen Bruder erblicken? Wie oft hat nur wenig daran gefehlt, daß ich ihm ähnlich wurde! Möchte er, vom Elend befreit, auch die Bosheit verlieren, diese Begleiterin des Elends! Möchte er eben so glücklich werden, wie ich bin; weit davon entfernt, daß sein Glück meine Eifersucht erregte, würde es vielmehr das meinige nur erhöhen.
Nachdem ich Gott auf diese Weise in seinen Werken betrachtet und an ihnen diejenigen seiner Eigenschaften studirt habe, deren Kenntniß für mich von Wichtigkeit war, ist es mir gelungen, die Anfangs unvollkommene und beschränkte Idee, welche ich mir von diesem unendlichen Wesen gebildet hatte, stufenweise zu erweitern und zu vervollkommnen. Wenn diese Idee nun auch edler und erhabener geworden ist, so hat sie dafür aber der menschlichen Vernunft gegenüber viel von ihrer Verständlichkeit eingebüßt. Jemehr ich mich im Geiste dem ewigen Lichte nähere, desto mehr blendet und verwirrt mich sein Glanz, und ich sehe mich genöthigt, alle irdische Begriffe fahren zu lassen, die es mir bisher erst möglich gemacht hatten, mir eine Vorstellung von ihm zu bilden. Nun verliert Gott für mich alles Körperliche und Sinnliche; die höchste Vernunft, welche die Welt regiert, ist nicht mehr die Welt selbst; vergeblich erhebe ich bis zur Ermattung meinen Geist zu ihr, um ihr unfaßbares Wesen zu erfassen. Wenn ich erwäge, daß sie es ist, die der lebenden und thätigen Substanz, welche die beseelten Körper regiert, erst Leben und Thätigkeit verleiht, und wenn ich dann behaupten höre, daß meine Seele geistiger Natur und Gott ebenfalls ein Geist sei, so erfüllt mich diese Herabwürdigung des göttlichen Wesens mit gerechtem Unwillen. Als ob Gott und meine Seele von gleicher Natur sein könnten! Als ob Gott nicht das einzige absolute, das einzige wirklich durch sich selbst thätige, fühlende, denkende, wollende Wesen wäre, von welchem wir unser Denken wie Fühlen, unsere Thätigkeit wie unseren Willen, unsere Freiheit wie unser Wesen erhalten haben. Wir sind nur deshalb frei, weil er will, daß wir es sein sollen, und seine unerforschliche Substanz ist für unsere Seelen dasselbe, was unsere Seelen für unsern Körper sind. Ob er die Materie, die Körper, die Geister, die Welt erschaffen hat, ist mir unbekannt. Die Idee der Schöpfung verwirrt mich und übersteigt meine Fassungskraft. Ich glaube sie, so viel mir daran begreiflich ist. Indeß weiß ich, daß er das Weltall und alles Existirende gebildet, daß er Alles geschaffen, Alles geordnet hat. Gott ist unzweifelhaft ewig. Ist aber mein Geist im Stande, die Idee der Ewigkeit zu begreifen? Weshalb soll ich mich mit Worten abspeisen lassen, mit denen ich keinen Begriff verbinden kann? So viel begreife ich jedoch, daß er existirte, ehe noch die Dinge waren, daß er sein wird, so lange sie fortdauern werden, und daß er selbst dann noch sein würde, wenn dereinst Alles aufhören sollte. Daß ein Wesen, welches ich nicht zu begreifen vermag, andere Wesen ins Dasein ruft, ist nur dunkel und unbegreiflich; daß dagegen Sein und Nichtsein von selbstin einander übergehen sollten, ist ein handgreiflicher Widerspruch, ist eine augenscheinliche Absurdität. Gott ist intelligent. Wie ist er es jedoch? Der Mensch ist intelligent, wenn er sich ein richtiges Urtheil bildet. Nun hat es aber die höchste Intelligenz nicht erst nöthig, sich Urtheile zu bilden; für sie gibt es weder Prämissen noch Schlußfolgerungen. Sie ist die absolute Anschauung; wie sie Alles überblickt, was ist, so sieht sie auch in gleicher Weise Alles, was sein kann; wie alle Wahrheiten für sie nur eine einzige Idee ausmachen, so auch alle Orte nur einen einzigen Punkt und alle Zeiten einen einzigen Augenblick. Die menschliche Macht wirkt durch Mittel, die göttliche Macht wirkt durch sich selbst. Gott kann, weil er will; seine Macht ist der Ausfluß seines Willens. Gott ist gütig, nichts tritt deutlicher zu Tage; aber die Güte des Menschen zeigt sich in der Liebe zu seinen Mitmenschen, während sich die Güte Gottes in seiner Liebe zur Ordnung offenbart, denn durch die Ordnung erhält er alles Bestehende und verbindet er jeden Theil mit dem Ganzen. Gott ist gerecht, ich bin davon überzeugt; die Gerechtigkeit ist die Folge seiner Güte; an der Ungerechtigkeit der Menschen sind sie selbst
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