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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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welcher die Vorüberziehenden ausplündert, deckt trotzdem die Blöße der Armen, und der wildeste Räuber versagt einem Ohnmächtigen seine Hilfe nicht.

    Man spricht von der Stimme des Gewissens, welche im Geheimen verborgene Verbrechen straft und oftmals Verrätherin an ihnen wird. Ach, wer unter uns hätte diese nicht zu beschwichtigende Stimme noch nie vernommen? Man spricht aus Erfahrung und möchte gern dieses tyrannische Gefühl, das uns so große Pein verursacht, zum Schweigen bringen. Gehorchen wir der Natur; dann werden wir wahrnehmen, eine wie milde Herrschaft sie ausübt, und welch ein Zauber darin liegt, sich ein günstiges Zeugniß ausstellen zu können, nachdem man nur auf ihre Rathschläge gehört hat. Der Böse hat vor sich selbst Furcht und sucht sich selbst zu entfliehen; er wird erst heiter, wenn er aus sich selbst heraustritt. Unruhig irren seine Blicke umher und suchen nach einem Gegenstande, der ihn belustigenkönne. Ohne bittere Satyre, ohne verletzenden Spott würde er sich einer steten Trauer hingeben; im Hohngelächter besteht sein einziges Vergnügen. Die Heiterkeit des Gerechten ist dagegen eine innere; sein Lachen verräth nicht Bosheit, sondern eine Freude, deren Quelle in ihm selber liegt. Ob er für sich allein ist oder sich mitten in einer Gesellschaft befindet, stets wird ihn ein gleichmäßiger Frohsinn erfüllen. Er schöpft seine Freude nicht etwa aus denen, mit welchen er in Berührung kommt, sondern theilt ihnen vielmehr die seinige mit.
    Lassen Sie alle Völker der Erde vor ihren Blicken vorüberziehen, erforschen Sie alle Gebiete der Geschichte: unter so vielen unmenschlichen und wunderlichen Arten der Gottesverehrung, unter dieser außerordentlichen Verschiedenheit der Sitten und Charaktere werden Sie trotzdem überall die nämlichen Ideen von Gerechtigkeit und Redlichkeit, überall die nämlichen Grundsätze der Moral, überall die nämlichen Begriffe von Gut und Böse vorfinden. Das alte Heidenthum brachte wahrhaft abscheuliche Gottheiten hervor, die man hienieden als Schurken zur Strafe gezogen hätte, und die uns die Verübung von Frevelthaten und die rückhaltlose Befriedigung der Leidenschaften als ein Bild des höchsten Glückes vorhielten. Gleichwol stieg das durch himmlische Autorität geheiligte Laster vergebens aus seiner ewigen Wohnung herab; der moralische Instinct ließ ihm keine Stätte in dem Menschenherzen. Während man Jupiters Ausschweifungen pries, bewunderte man die Enthaltsamkeit des Xenokrates; die keusche Lucretia verehrte die unzüchtige Venus; der heldenmüthige Römer brachte der Gottheit der Furcht Opfer dar; er rief den Gott an, der seinen Vater verstümmelte, und starb ohne Murren von der Hand seines eigenen. Den verächtlichsten Gottheiten huldigten gerade die größten Männer. Die heilige Stimme der Natur, stärker als die der Götter, wußte sich auf Erden zu Ehren zu bringen und schien die Schuld mit den Schuldigen in den Himmel zu verweisen.
    Es liegt folglich in der Tiefe der Seele ein angeborenes Princip der Gerechtigkeit und Tugend, nach dem wir, wie auch unsere eigenen Grundsätze sein mögen, nicht nurunsere Handlungen, sondern auch die Handlungen Anderer als gut oder böse anerkennen, und dieses Princip nenne ich Gewissen.
    Bei diesem Worte höre ich aber schon von allen Seiten das Geschrei der sogenannten Weisen. »Irrthümer der Kindheit, Vorurtheile der Erziehung,« tönt es in seltener Einstimmigkeit um mich her. »Im Menschengeiste ist nur das vorhanden, was er der Erfahrung entnommen hat, und unserm Urtheile über die Dinge liegen nur die Ideen, welche wir uns angeeignet haben, zu Grunde.« Ja, sie bleiben hierbei noch nicht einmal stehen, sie wagen es sogar, die klare und allgemeine Uebereinstimmung aller Völker zu verwerfen, und suchen gegen die eclatante Gleichheit des Urtheils der Menschen im Dunkeln nach irgend einem obscuren, ihnen allein bekannten Beispiele, als ob alle uns von der Natur eingepflanzten Triebe durch die Entartung eines Volkes vernichtet würden, und mit dem Vorkommen einzelner Mißgeburten das ganze Geschlecht ausgerottet wäre. Was nützen indeß dem skeptischen Montaigne seine sorgenvollen Bemühungen, in irgend einem Winkel der Welt einen den Begriffen der Gerechtigkeit zuwider laufenden Gebrauch zu entdecken? Was nützt es ihm, den verdächtigsten Reisenden eine Autorität beizulegen, die er den berühmtesten Schriftstellern versagt? Sollten wirklich einige nicht einmal völlig feststehende und

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