Emil oder Ueber die Erziehung
verloren hat! Mit wie viel größerer Schwierigkeit ist es aber noch verbunden, ihn sich anzueignen, wenn man ihn noch nie gehabt hat! Gäbe es einen Menschen, der bis zu der Stufe der Verkommenheit hinabgesunken wäre, daß er in seinem ganzen Leben nichts gethan hätte, dessen Erinnerung ihn mit sich selbst zufrieden machen könnte und ihm einen frohen Rückblick auf sein vergangenes Leben gestattete, so würde einem solchen Menschen die Fähigkeit mangeln, sich je selbst zu erkennen, und da er nicht fühlte, wie sehr die Güte zu seiner Natur gehört, so würde er nothwendigerweise böse bleiben und ewig unglücklich sein. Aber wähnen Sie etwa, daß es auf dem ganzen Erdenrund auch nur einen einzigen Menschen gibt, der so verdorben wäre, daß sich sein Herz nie versucht gefühlt hätte, Gutes zu thun? Eine solche Versuchung ist so natürlich und so süß, daß es unmöglich ist, ihr auf immer zu widerstehen, und die Erinnerung an die Freude, die sie uns einmal bereitet hat, reicht hin, um sie unablässig von Neuem wachzurufen. Unglücklicherweise läßt sie sich Anfangs nur mit Beschwerden befriedigen; man hat tausenderlei Vorwände, der Neigung seines Herzens kein Gehör zu schenken. Die falsche Klugheit hält es in den engen Schranken des menschlichen Ichs zusammen, und es sind tausend muthige Anstrengungen nöthig, bis es sie zu durchbrechen wagt. Freude am Gutesthun ist der Lohn für die vollbrachte gute That, und dieser Lohn wird nur dem zu Theil, der ihn sich wirklich verdient hat. Nichts ist liebenswürdiger als die Tugend, aber ihre Ausübung muß uns Genuß gewähren, wenn wir sie so finden sollen. Wenn man sich ihr ganz zu eigen geben will, so nimmt sie, wie Proteus in der Sage, Anfangs tausend abschreckende Gestalten an und zeigt sich endlich nur denen in ihrer wirklichen Gestalt, die sie sich auch nicht einen Augenblick haben entschlüpfen lassen.
Im unaufhörlichen Kampfe mit meinen natürlichen Empfindungen, welche für das allgemeine Beste sprachen, und mit meiner Vernunft, die Alles auf mich bezog, wäre ich mein ganzes Leben hindurch beständigen Schwankungen unterworfen gewesen, hätte das Böse gethan und das Gute geliebt, kurz hätte in fortwährendem Widerspruche mit mir selbst gelebt, wenn nicht ein neues Licht mein Herz erleuchtet, wenn nicht die Wahrheit, die meinen Ansichten eine feste Richtung gab, meinem Wandel eine sichere Bahn vorgezeichnet und mich wieder mit mir selbst in Einklang gebracht hätte. Vergeblich ist es, die Tugend auf die Vernunft allein gründen zu wollen; welche sichere Grundlage könnte man ihr damit wol geben? Die Tugend, sagt man, ist die Liebe zur Ordnung. Aber kann und darf denn diese Liebe in mir den Sieg über die Liebe zu meinem Wohlsein davontragen? Gebe man mir doch einen klaren und ausreichenden Grund an, weshalb ich jener den Vorzug einräumen soll. Im Grunde genommen beruht ihr angebliches Princip nur auf einem bloßen Spiele mit Worten, denn ich kann mit demselben Rechte behaupten, das Laster sei die Liebe zur Ordnung, allerdings in einem ganz andern Sinne. Ueberall, wo sich Empfindung und Verstand findet, gibt es eine gewisse moralische Ordnung. Dabei darf nun freilich der Unterschied nicht übersehen werden, daß der Gute sich dem Ganzen, der Böse dagegen das Ganze sich unterordnet. Letzterer macht sich zum Mittelpunkte aller Dinge, Ersterer mißt seinen Radius und hält sich in der Peripherie. Damit ist er zu Gott, dem gemeinsamen Mittelpunkte, und zu allen concentrischen Kreisen, welche von den Geschöpfen gebildet werden, in das richtige Verhältniß getreten. Gibt es keine Gottheit, so kann man nur dem Bösen Vernunft zugestehen; der Gute handelt dann aber wie ein Unvernünftiger.
O mein Kind, könnten Sie dereinst empfinden, welche Last Einem abgenommen ist, wenn man endlich, nachdem man die Nichtigkeit der menschlichen Meinungen und die Bitterkeit der Leidenschaften gekostet hat, in seiner nächsten Nähe den Weg zur Weisheit, den Lohn für die Mühen dieses Lebens und die Quelle des Glückes findet, woranman schon verzweifelt hatte. Alle Pflichten des Naturgesetzes, welche die Ungerechtigkeit der Menschen fast schon aus meinem Herzen verwischt hatte, prägen sich demselben wieder ein im Namen der ewigen Gerechtigkeit, die sie mir auferlegt und zuschaut, wie ich sie erfülle. Jetzt erblicke ich in mir nur noch das Werk und das Werkzeug des erhabenen Wesens, welches das Gute will und thut und auch mein wahres Glück herbeiführen wird, wenn
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