Emil oder Ueber die Erziehung
mein Wille mit dem seinigen in Einklang steht und ich von meiner Freiheit einen weisen Gebrauch mache. Ich füge mich in die Ordnung, die es hergestellt hat, überzeugt, daß ich dereinst selbst einen vollen Antheil an dieser Ordnung haben und darin meine Glückseligkeit finden werde, denn was kann uns wol mit einer höheren Glückseligkeit erfüllen, als das Gefühl, einem Systeme anzugehören, in welchem Alles gut ist? Foltern mich Schmerzen, so trage ich sie in Geduld und tröste mich mit dem Gedanken, daß sie vorübergehend sind und von einem Körper ausgehen, der doch nicht für immer mein eigen ist. Verrichte ich ohne Zeugen eine gute Handlung, so weiß ich, daß sie doch gesehen wird, und glaube, daß mein Wandel in diesem Leben von Einfluß auf das künftige Leben sein wird. Muß ich Unrecht leiden, so sage ich mir: Das gerechte Wesen, welches Alles lenkt und regiert, wird mich wol zu entschädigen wissen. Die Bedürfnisse meines Körpers, die Leiden meines Lebens machen mir den Gedanken an den Tod erträglicher. Wenn ich einmal von Allem scheiden muß, werde ich desto weniger Bande zu zerreißen brauchen.
Warum ist meine Seele meinen Sinnen unterworfen und an diesen Körper gekettet, der sie unterjocht und behindert? Ich weiß es nicht. Bin ich in die Rathschlüsse Gottes eingedrungen? Aber, ohne daß man mich der Vermessenheit zeihen könnte, darf ich wenigstens einfache Vermuthungen aufstellen. Ich sage mir: Was für ein Verdienst würde wol für den menschlichen Geist, wenn er frei und rein geblieben wäre, darin liegen, die Ordnung, die er festgestellt sähe und die zu stören es ihm an allem Interesse fehlte, zu lieben und zu befolgen? Wol ist es wahr, daß er glücklich sein würde, aber es würde seinemGlücke doch der höchste Grad mangeln, nämlich der Ruhm der Tugend und das gute Zeugniß seiner selbst. Er würde nur wie die Engel sein, während ein tugendhafter Mensch unzweifelhaft einst mehr sein wird als sie. Vereint mit einem sterblichen Körper durch eben so mächtige wie unbegreifliche Bande, wird die Seele durch die Sorge für die Erhaltung dieses Körpers angetrieben, Alles auf ihn zu beziehen, und wendet ihm deshalb ein Interesse zu, welches der allgemeinen Ordnung, die sie nichts desto weniger zu erkennen und zu lieben fähig ist, zuwider läuft. Unter diesen Verhältnissen wird dann der rechte Gebrauch ihrer Freiheit zugleich Verdienst und Belohnung, und sie bereitet sich durch Bekämpfung ihrer irdischen Leidenschaften und Aufrechterhaltung ihres ursprünglichen Willens ein unwandelbares Glück.
Wenn nun sogar in dem Zustande der Erniedrigung, in dem wir uns dies Leben hindurch befinden, alle unsere ursprünglichen Triebe gesetzmäßig sind, wenn alle unsere Laster ihre Quelle nur in uns selber finden, weshalb beklagen wir uns dann, daß wir von ihnen beherrscht werden? Weshalb machen wir mit unseren Vorwürfen den Urheber der Dinge für die Uebel, die wir uns selbst zufügen, und für die Feinde verantwortlich, die wir gegen uns selbst waffnen? Ach, laßt uns nur den Menschen nicht verderben, dann wird er beständig gut sein ohne Leiden und beständig glücklich ohne Gewissensbisse. Die Schuldigen, welche vorgeben, zum Verbrechen gezwungen zu sein, sind eben so lügnerisch als schlecht. Wie können sie sich gegen die Einsicht verschließen, daß die Schwäche, über welche sie sich beklagen, ihr eigenes Werk ist; daß ihre erste Verderbniß ihrem eigenen Willen entspringt, daß sie nur um deswillen, weil sie Anfangs ihren Versuchungen nachgeben wollten, ihnen endlich auch wider ihren Willen nachgeben müssen und dieselben unwiderstehlich machen? Unzweifelhaft hängt es jetzt nicht mehr von ihnen ab, nicht böse und schwach zu sein, aber es hing von ihnen ab, es nicht zu werden. O, mit welcher Leichtigkeit würden wir sogar während dieses Lebens Meister über uns und unsere Leidenschaften bleiben, wenn wir zu der Zeit,in welcher sich noch keine bestimmte Gewohnheiten in uns festgesetzt haben, in welcher unser Geist sich erst zu entfalten beginnt, diesen mit Gegenständen zu beschäftigen verständen, welche er kennen muß, um diejenigen, die ihm noch unbekannt sind, würdigen zu können; wenn wir den aufrichtigen Wunsch hegten, uns aufzuklären, nicht um in den Augen Anderer zu glänzen, sondern um unserer Natur gemäß gut und verständig zu sein, um unser Glück in der Erfüllung unsrer Pflichten zu finden! Dieses Studium erscheint uns freilich langweilig und mühselig, weil wir
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