Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
finden, so vermag Gott doch allein, mir die Augen über sie zu öffnen. Ich habe, um zur Wahrheit zu gelangen, Alles gethan, was in meinen Kräften stand, aber ihre Quelle liegt in zu steiler Höhe. Wenn mir die Kräfte fehlen, noch weiter zu ihr vorzudringen, worin kann man mich dann einer Schuld zeihen? Ihre Aufgabe ist es, sich mir zu nahen.
    Der wackere Geistliche hatte mit Leidenschaft gesprochen; er war bewegt, und ich war es gleichfalls. Mir war es, als hörte ich den göttlichen Orpheus seine ersten Hymnen singen und die Menschen in der Verehrung der Götter unterrichten. Trotzdem erkannte ich sehr wohl, wie viele Einwände sich gegen ihn erheben ließen. Ich machte jedoch keinen einzigen, weil sie weniger geeignet waren zu überzeugen als in Verlegenheit zu setzen, und meine innerste Ueberzeugung auf seiner Seite stand. Je mehr ich empfand, daß er sich bei seiner Mittheilung nur von seinem Gewissen hatte leiten lassen, desto mehr schien mir auch mein Gewissen alle seine Worte zu bestätigen.
    Die Ansichten, die Sie mir so eben entwickelt haben, begann ich endlich, erscheinen mir neuer in Bezug auf das, was Sie nicht zu wissen gestehen, als hinsichtlich dessen, was Sie zu glauben behaupten. Ich erkenne darin so ziemlich die Grundsätze des Theismus oder der natürlichen Religion, welche die Christen merkwürdigerweise gern mit dem Atheismus oder der Irreligion verwechseln, obwoldiese den schroffsten Gegensatz zu dem Atheismus bildet. Bei meinem augenblicklichen Glaubenszustande muß ich indeß, um Ihre Ansichten annehmen zu können, mehr hinauf- als herabsteigen, und ich halte es für schwierig, gerade auf dem Punkte stehen zu bleiben, welchen Sie erreicht haben, sofern man nicht eben so weise ist als Sie. Allein um wenigstens eben so aufrichtig zu sein, will ich mit mir zu Rathe gehen. Auch mich soll nach Ihrem Beispiele das innere Gefühl dabei leiten, und Sie haben mich ja selbst gelehrt, daß es, nachdem man ihm einmal ein so langes Stillschweigen auferlegt hat, nicht das Werk eines Augenblicks sein kann, es wieder wachzurufen. Ich werde den Inhalt Ihrer Mittheilungen in meinem Herzen bewahren; ich muß über denselben nachdenken. Wenn ich nach reiflicher Ueberlegung von der Wahrheit Ihrer Ansichten eben so überzeugt bin wie Sie, dann sollen Sie mein letzter Apostel sein und ich werde Ihr Proselyt bis zum Tode bleiben. Fahren Sie inzwischen fort, mich zu unterrichten. Von dem, was mir zu wissen nöthig ist, haben Sie mir erst die Hälfte gesagt. Reden Sie mit mir noch über die Offenbarung, über die heilige Schrift, über jene dunklen Glaubenssätze, über welche ich mich seit meiner Kindheit im Unklaren befinde, ohne sie begreifen oder glauben zu können, und ohne zu wissen, wie weit ich sie annehmen oder verwerfen soll.
    Ja, mein Sohn, erwiderte er, indem er mich umarmte; ich werde Ihnen keinen meiner Gedanken verheimlichen. Ich will Ihnen mein Herz nicht nur halb öffnen; allein der Wunsch, den Sie mir eben zu erkennen gaben, war nothwendig, um mir das Recht einzuräumen, jede Zurückhaltung Ihnen gegenüber schwinden zu lassen. Ich habe Ihnen bisher nichts mitgetheilt, wovon ich nicht glaubte, daß es Ihnen zum Nutzen gereichen könnte, und wovon ich nicht im Innersten überzeugt wäre. Mit der Untersuchung, die mir nun noch anzustellen übrig bleibt, verhält es sich freilich ganz anders. Ich sehe bei derselben nur Hindernisse, Geheimniß und Dunkelheit; nur mit Unsicherheit und Mißtrauen gehe ich an die mir gestellte Aufgabe. Mit Zittern entschließe ich mich nur dazu und werdeIhnen eher meine Zweifel als meine eigene Meinung aussprechen. Hätten Sie schon festere Ansichten, so würde ich Anstand nehmen, Sie mit den meinigen bekannt zu machen; allein in dem Zustande, in welchem Sie sich gegenwärtig befinden, wird es für Sie vorteilhaft sein, wenn Sie meine Denkweise annehmen. [33] Räumen Sie übrigens meinen Erörterungen nur so viel Ansehen ein, als Ihre Vernunft denselben zugesteht. Ich weiß ja nicht, ob ich mich irre. Bei Auseinandersetzungen ist es schwer, einen absprechenden Ton immer zu vermeiden. Seien Sie jedoch eingedenk, daß hier alle meine Behauptungen nur Gründe zum Zweifeln sind. Suchen Sie die Wahrheit selbst, ich für mein Theil verspreche Ihnen nur volle Aufrichtigkeit.
    Sie finden in meiner Darstellung nur die natürliche Religion. Es erscheint äußerst befremdend, daß wir noch einer andern bedürfen sollen. Woraus soll ich diese Nothwendigkeit erkennen? In wie fern kann

Weitere Kostenlose Bücher