Emil oder Ueber die Erziehung
ich mich schuldig machen, wenn ich Gott nach den Einsichten, mit welchen er meinen Geist ausstattet, und nach den Gefühlen, mit welchen er mein Herz beseelt, diene? Welche Reinheit der Moral, welches dem Menschen nützliche und für seinen Schöpfer ehrenvolle Dogma kann ich aus einer positiven Lehre schöpfen, welches ich nicht auch ohne dieselbe durch die richtige Anwendung meiner Anlagen mir selbst zu entwickeln im Stande wäre? Weisen Sie mir nach, was sich zur Ehre Gottes, zum Heile der Gesellschaft und zu meinem eigenen Besten noch zu den Pflichten des Naturgesetzes hinzufügen ließe, und welche Tugend wol Ihrer Ansicht nach ein neuer Cultus hervorbringen könnte, die man nicht auch mit logischer Notwendigkeit aus dem meinigen zu folgern im Stande wäre? Die erhabensten Ideen von der Gottheit verdanken wir allein der Vernunft. Betrachten Sie das Schauspiel der Natur, hören Sie auf die innere Stimme. Hat Gott nicht unseren Augen, unserem Gewissen, unserer Urtheilskraft Alles offenbart? Was vermögen uns die Menschen mehr zu sagen? IhreOffenbarungen können nur darauf auslaufen, Gott herabzuwürdigen, indem sie ihm menschliche Leidenschaften beilegen. Statt unsere Begriffe von dem höchsten Wesen aufzuklären, verwirren, wie ich bemerke, die einzelnen Dogmen dieselben nur; statt sie zu veredeln, machen sie sie verächtlich. Ich nehme wahr, daß sie zu den unbegreiflichen Geheimnissen, welche dasselbe umgeben, noch sinnlose Widersprüche hinzufügen und den Menschen stolz, unduldsam und grausam machen, daß sie endlich, statt Frieden auf Erden herzustellen, Feuer und Schwert bringen. Ich frage mich, wozu das Alles nütze, ohne eine Antwort darauf zu finden. Ich nehme hienieden nichts als die Verbrechen der Menschen und das Elend des menschlichen Geschlechts wahr.
Man wendet mir ein, eine Offenbarung sei nöthig gewesen, um die Menschen über die Art und Weise zu belehren, in welcher Gott verehrt sein wolle; als Beweis dafür führt man die Verschiedenartigkeit der höchst seltsamen Gottesverehrungen an, welche von den Menschen eingeführt worden sind, und will nicht begreifen, daß gerade diese Mannigfaltigkeit schon eine Folge der Einbildung ist, es gebe Offenbarungen. Seitdem sich die Menschen herausgenommen haben, Gott eine Sprache zu verleihen, hat ihn Jeder auf seine Weise sprechen und sich von ihm sagen lassen, was er gewollt hat. Wenn man nur auf das gelauscht hätte, was Gott zum Herzen des Menschen redet, so würde es nur eine einzige Religion auf Erden gegeben haben.
Man bedurfte eines gleichmäßigen Gottesdienstes. Ich will es nicht bestreiten. Aber war denn dieser Umstand von solcher Wichtigkeit, daß man zu seiner Erreichung den ganzen Apparat der göttlichen Macht in Bewegung setzen mußte? Man wolle nur die äußere Form der Religion nicht mit der Religion selbst verwechseln. Gott verlangt den Dienst des Herzens, und ist dieser nur aufrichtig, so ist er stets gleichförmig. Es verräth eine sehr thörichte Eitelkeit, wenn man sich dem Wahne hingibt, Gott nehme an der Form der Kleidung des Priesters, an der Reihenfolge der von ihm vorgetragenen Worte, an den Geberden, welche er am Altar macht und an seinen Kniebeugungenein so großes Interesse. O, mein Freund, halte dich fern von solchem Wahne! Wie hoch du dich in deiner Einbildung auch erheben mögest, du wirst doch der Erde immer nahe genug bleiben. Gott will im Geiste und in der Wahrheit angebetet werden; das ist die Pflicht aller Religionen, aller Länder, aller Menschen. Soll aber etwa um der guten Ordnung willen das Aeußere des Cultus gleichförmig sein, so ist dies lediglich eine Sache der Polizei; dazu bedarf es keiner Offenbarung.
Dies waren freilich nicht die ersten Betrachtungen, die ich anstellte. Fortgerissen von den Vorurtheilen der Erziehung und dieser gefährlichen Eigenliebe, die stets darauf ausgeht, den Menschen über seine Sphäre hinaus zu versetzen, bemühte ich mich, da sich meine schwachen Begriffe nicht bis zu dem höchsten Wesen zu erheben vermochten, es zu mir herabzuziehen. Ich suchte die unendlich entfernten Beziehungen, die es zwischen seiner und meiner Natur hergestellt hat, einander näher zu bringen. Ich wünschte unmittelbarere Mittheilungen, einen eingehenderen, mir allein ertheilten Unterricht, und nicht zufrieden damit, Gott dem Menschen ähnlich zu machen, lüstete mich, um auch unter meinen Mitmenschen einen Vorzug zu haben, nach übernatürlichen Aufschlüssen. Ich begehrte einen besonderen Gottesdienst
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