Emil oder Ueber die Erziehung
erst dann daran denken, wenn wir durch das Laster schon verderbt sind, wenn wir uns unseren Leidenschaften schon überlassen haben. Bevor wir noch das Gute und Böse kennen, bilden wir uns schon ein festes Urtheil und legen den Dingen einen bestimmten Werth bei, und da wir dann an Alles diesen falschen Maßstab legen, so fassen wir nichts nach seinem wirklichen Werthe auf.
Es gibt ein Alter, wo das noch freie, aber warmblütige, unruhige und nach einem unbekannten Glücke heftig verlangende Herz demselben mit einer gewissen neugierigen Unruhe nachjagt und sich endlich, durch die Sinne getäuscht, an dem trügerischen Bilde desselben anklammert und es da zu finden glaubt, wo es nicht vorhanden ist. Diese Täuschungen haben für mich nur allzu lange angehalten. Ach, nur zu spät habe ich sie als solche erkannt und sie nie völlig in mir auszurotten vermocht! Sie werden so lange dauern wie dieser sterbliche Leib, in welchem sie ihre Quelle finden. Mögen sie mir immerhin in ihrer verführerischen Gestalt entgegentreten, täuschen werden sie mich gewiß nicht mehr. Ich erkenne sie jetzt als das, was sie sind. Obwol ich ihnen folge, verachte ich sie doch. Weit davon entfernt, in ihnen eine Quelle meines Glückes zu erblicken, sehe ich in ihnen vielmehr ein Hinderniß desselben. Ich sehne mich nach dem Augenblicke, wo ich, erlöst von den Fesseln des Leibes, ohne Widerspruch und ungetheilt, ganz ich sein und nur meiner selbst bedürfen werde, um glücklich zu sein. Mittlerweile bin ich es schon in diesem Leben, weil mir alle Uebel desselben gering erscheinen, weil ich es fast als etwas meinem WesenFremdartiges betrachte und weil alles wahrhaft Gute, was ich aus demselben zu gewinnen vermag, völlig in meiner Gewalt steht.
Um mich schon im Voraus, so weit es möglich ist, zu diesem Zustande des Glückes, der Kraft und der Freiheit zu erheben, stelle ich fortwährend erhabene Betrachtungen an. Ich denke über die Weltordnung nach, nicht um sie mir durch eitle Systeme zu erklären, sondern um sie unausgesetzt zu bewundern und den weisen Schöpfer anzubeten, der sich in ihr offenbart. Ich rede mit ihm und lasse all meine Fähigkeiten von seinem göttlichen Wesen durchdringen; seine Wohlthaten rühren mich, für seine Gaben preise ich ihn, aber ich richte an ihn keine Bitte. Was in aller Welt sollte ich auch von ihm erbitten? Etwa, daß er um meinetwillen den Lauf der Dinge ändere und mir zu Gunsten Wunder thue? Könnte ich, der ich die von seiner Weisheit aufgerichtete und durch seine Vorsehung aufrecht erhaltene Ordnung über Alles lieben muß, wol den Wunsch hegen, daß diese Ordnung um meinetwillen gestört würde? Nein, dieser vermessene Wunsch verdiente weit eher Strafe als Erhörung. Eben so wenig stehe ich an, mir die Kraft zu verleihen, Gutes zu thun. Weshalb ihn noch um etwas bitten, was er mir schon gegeben hat? Empfing ich nicht von ihm das Gewissen, das Gute zu lieben, die Vernunft, es zu erkennen, die Freiheit, es zu erwählen? Thue ich das Böse, so kann mir nichts zur Entschuldigung dienen; ich thue es, weil ich es will. Bitten, er möge meinen Willen ändern, hieße von ihm das begehren, was er von mir selbst verlangt, hieße das Ansinnen an ihn stellen, er solle mein Werk verrichten und mir dann den Lohn dafür ertheilen. Mit meinem Zustande nicht zufrieden sein, heißt nicht mehr Mensch sein wollen, heißt etwas Anderes wollen, als was ist, heißt die Unordnung und das Uebel wollen. O, du Quelle der Gerechtigkeit und Wahrheit, gnädiger und gütiger Gott, in meinem Vertrauen zu dir ist der höchste Wunsch meines Herzens, daß dein Wille geschehe. Erst wenn ich meinen Willen mit dem deinigen vereinige, thue ich, was du thust; ich füge mich deinem gütigen Willen; schon im Vorausmeine ich Theil an der höchsten Glückseligkeit zu haben, welche der Lohn dafür ist.
Bei dem gerechten Mißtrauen, das ich gegen mich selbst hege, ist das Einzige, was ich von Gott erbitte, oder was ich vielmehr von seiner Gerechtigkeit erwarte, daß er, wenn ich in einen mir gefährlichen Irrthum versinke, mich wieder auf den rechten Weg bringen wolle. Um aufrichtig zu sein, bekenne ich, daß ich mich nicht für unfehlbar halte. Vielleicht enthalten meine Ansichten, welche mir für ausgemachte Wahrheiten gelten, eben so viele Unrichtigkeiten; denn welcher Mensch gibt die seinigen wol gern auf? Und wie viele Menschen stimmen in allen Punkten überein? Mag die Täuschung, in der ich befangen bin, immerhin in mir selbst ihre Quelle
Weitere Kostenlose Bücher