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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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für mich, begehrte, daß Gott mir offenbare, was er Andern nicht offenbart habe, oder für was Andere nicht dasselbe Verständniß zeigen würden, wie ich. Da ich den Punkt, bis zu welchem ich gelangt war, für den gemeinsamen Punkt hielt, von welchem alle Gläubigen ausgingen, um zu einem geläuterten Gottesdienste hindurchzudringen, so fand ich in den Dogmen der Naturreligion nur die Elemente aller Religion. Ich erwog die große Verschiedenheit unter den auf Erden herrschenden Sekten, die sich sämmtlich gegenseitig der Lüge und des Irrthums zeihen; ich fragte: In welcher ist der wahre Glaube zu finden? Jeder antwortete mir: »In der meinigen«; Jeder erklärte: »Ich und meine Glaubensgenossen denken allein recht; alle Andern befinden sich im Irrthum.« Und woher weißt du, daß deine Sekte die rechte ist? »Weil,Gott es gesagt hat.« [34] Und von wem weißt du, daß Gott es gesagt hat? »Von meinem Pfarrer, welcher es sicher weiß. Mein Pfarrer befiehlt mir, ich solle dies glauben, und folglich glaube ich es. Er gibt mir die Versicherung, daß Alle, welche anders sprechen als er, lügen, und deshalb höre ich nicht auf sie.«
    Wie, dachte ich, ist nicht die Wahrheit eine einige? Und kann das, was bei mir wahr ist, sich bei euch als Unwahrheit herausstellen? Wenn der, welcher den rechten Weg einschlägt und der, welcher in der Irre umhergeht, dieselbe Methode verfolgen, wie kann ich dann dem Einen ein größeres Verdienst oder ein größeres Unrecht beimessen als dem Anderen? Ihre Wahl ist ein Spiel des Zufalls; sie ihnen anrechnen, würde ein Act der Unbilligkeit sein; es hieße sie dafür belohnen oder bestrafen, daß sie in diesem oder jenem Lande geboren sind. Wer sich unterfängt, die Behauptung aufzustellen, daß Gott uns einst in dieser Weise richten werde, beleidigt seine Gerechtigkeit.
    Entweder sind alle Religionen gut und Gottwohlgefällig, oder, wenn er den Menschen eine besondere vorschreibt und die, welche sie nicht anerkennen, bestraft; so hat er dieselbe auch an sicheren und untrüglichen Merkmalen kenntlich gemacht, an welchen sie unterschieden und als die einzig wahre erkannt werden kann. Diese Kennzeichen finden sich zu allen Zeiten und allen Orten und sind allen Menschen, großen und kleinen, gelehrten und ungelehrten, Europäern, Indiern, Afrikanern und Wilden gleich verständlich. Gäbe es eine Religion auf Erden, die Alle, welche nicht ihre Anhänger wären, der ewigen Verdammniß überantwortete, und lebte an irgend einem Orte der Welt ein einziger Sterblicher, der aufrichtig nach Wahrheit strebte und sich trotzdem von der Richtigkeit dieser Religion nicht hätte überzeugen können, so wäre der Gott, den dieselbe lehrte, der ungerechteste und grausamste der Tyrannen.
    Laßt uns deshalb aufrichtig nach der Wahrheit streben; laßt uns nichts auf das Recht der Geburt, nichts auf die Autorität der Väter und der Geistlichen geben, sondern laßt uns Alles, was sie uns von Jugend auf gelehrt haben, unserm Gewissen und unserer Vernunft zur Prüfung vorlegen. Vergeblich werden sie mir zurufen: »Gib deine Vernunft gefangen!« Ein Gleiches kann auch der von mir verlangen, welcher mich täuscht. Ich bedarf der Vernunftgründe, um meine Vernunft gefangen zu geben.
    Alle Gotteserkenntniß, die ich mir durch Betrachtung des Weltalls und durch eine richtige Anwendung meiner Seelenkräfte selbst zu erwerben vermag, beschränkt sich auf das, was ich Ihnen so eben auseinandergesetzt habe. Wer nach höherem Wissen verlangt, muß zu außerordentlichen Mitteln seine Zuflucht nehmen. Als ein solches Mittel kann aber menschliche Autorität nicht gelten; denn da kein Mensch einer anderen Gattung als ich selbst angehört, so vermag ich Alles, was ein Mensch auf natürlichem Wege zu erkennen im Stande ist, gleichfalls zu erkennen, und ein anderer Mensch ist eben so gut Irrthümern unterworfen als ich. Glaube ich, was derselbe sagt, so geschieht es nicht seiner Behauptung, sondern seines Beweises wegen. Folglich ist im Grunde genommen das Zeugniß der Menschennur das meiner eigenen Vernunft und gibt mir nicht mehr Aufschlüsse als die natürlichen Mittel, welche mir Gott zur Erkenntniß der Wahrheit gegeben hat.

    Was vermagst du, Apostel der Wahrheit, mir deshalb zu sagen, worüber ich nicht Richter bliebe? »Gott selbst hat gesprochen, vernimm seine Offenbarung!« Das ist etwas Anderes. Gott hat also geredet! Das ist freilich ein großes Wort. Und zu wem hat er denn geredet? »Zu den Menschen.« Wie kommt es

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