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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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davon Kenntniß erhalten? Wenn man in allen Ländern alle Wunder für wahr hielte, welche das Volk und die Schwachköpfe nach ihrer Behauptung gesehen haben, so würde jede Sekte die rechte sein; es würde mehr Wunder als Naturereignisse geben, und das größte aller Wunder würde darin bestehen, daß da, wo die Fanatiker Verfolgung erleiden, gar keine Wunder vorkämen. Gerade die unwandelbare Ordnung der Natur läßt am besten die weise Hand erkennen, welche sie regiert. Kämen viele Ausnahmen vor, so würde ich nicht mehr wissen, was ich davon denken sollte; und ich für mein Theil habe einen zu festen Glauben an Gott, um an die große Menge voll Wundern, die seiner so wenig würdig sind, glauben zu können.
    Angenommen, es erschiene ein Mensch und spräche zu uns: »Sterbliche, ich verkündige euch den Willen des Allerhöchsten; erkennet in meinen Worten den Auftrag dessen, der mich gesandt hat, ich befehle der Sonne, ihre Bahn zu ändern, den Sternen, sich anders zu gruppiren, den Bergen, sich zu ebenen, den Fluten, sich zu erheben, der Erde, eine andere Stellung unter den Planeten einzunehmen«, wer würde in diesen Wundern nicht sofort den Herrn der Natur erkennen? Betrügern leistet sie keinen Gehorsam; deren Wunder finden an den Gassenecken, in Wüsten und Zimmern statt, und hier, einer kleinen Zahl von Zuschauern gegenüber, die von vorn herein geneigt sind, Alles zu glauben, fällt es ihnen nicht schwer, ihre Betrügereien auszuüben. Wer möchte sich wol unterfangen, mir zusagen, wie viel Augenzeugen nöthig sind, um ein Wunder glaubwürdig zu machen? Wenn die Wunder, welche ihr zum Beweise eurer Lehre verrichtet habt, erst selbst wieder der Beweise bedürfen, wozu nützen sie dann? Dann hättet ihr sie eben so gut unterlassen können.
    Schließlich bleibt uns noch die wichtigste Untersuchung hinsichtlich der in Frage stehenden Lehre übrig; denn da diejenigen, welche behaupten, Gott thue hienieden Wunder, gleichermaßen versichern, daß der Teufel dieselben bisweilen nachahme, so sind wir selbst bei den bestbeglaubigten Wundern noch um nichts weiter gekommen, und da sich Pharaos Zauberer sogar in Moses Gegenwart herausnahmen, die nämlichen Zeichen zu thun, welche er aus Gottes ausdrücklichen Befehl that, warum hätten sie dann nicht in seiner Abwesenheit mit demselben Rechte die gleiche Autorität beanspruchen können? Folglich muß, nachdem die Lehre erst durch das Wunder bewiesen worden ist, das Wunder wieder durch die Lehre bewiesen werden, [35] ausBesorgniß, daß sonst am Ende Teufelswerk für Gotteswerk angesehen werde. Was denken Sie aber von einem solchen Zirkelschluß?
    Da diese Lehre von Gott stammt, so muß sie auch die heilige Eigenart der Gottheit an sich tragen. Nicht allein muß sie die verworrenen Begrifft läutern, welche sich in Folge unseres Nachdenkens über sie in unserem Geiste festgesetzt haben, sondern sie muß uns auch einen Cultus, eine Moral und Grundsätze darbieten, welche mit den Eigenschaften, durch welche wir allein ihr Wesen zu begreifen vermögen, in Einklang stehen. Wenn sie uns also nur ungereimte und der Vernunft widersprechende Dinge lehrte, wenn sie uns nur mit Gefühlen der Abneigung gegen unsere Nebenmenschen und der Angst vor uns selbst erfüllte, wenn sie uns Gott nur als einen zornigen, eifersüchtigen, Rache schnaubenden, parteiischen, von Menschenhaß beseelten Gott ausmalte, als einen Gott des Krieges und der Schlachten, der stets darauf ausgeht, zu zerstören und mit seinen Blitzen zu zerschmettern, stets von Qualen und Aengsten redet und sich sogar rühmt, die Unschuldigen zu bestrafen, so würde sich mein Herz wahrlich nicht zu diesem schrecklichen Gotte hingezogen fühlen, und ich würde Bedenken tragen, die Naturreligion mit einer solchen zu vertauschen, denn Sie werden begreifen, daß man hier nothwendigerweise zu einer Wahl schreiten müßte. Euer Gott, würde ich den Anhängern dieser Lehre erklären, ist nicht der unsrige. Der Gott, welcher sich von Anfang an ein einziges Volk auserwählt und das ganze übrige Menschengeschlecht von sich stößt, ist nicht der gemeinsame Vater der Menschen; der Gott, welcher die größte Zahl seiner Geschöpfe zur ewigen Qual bestimmt, ist nicht der gnädige und gütige Gott, den mich meine Vernunft erkennen läßt.
    Bezüglich der Dogmen sagt mir meine Vernunft, daß sie klar, lichtvoll und von unbestreitbarer Wahrheit sein müssen. Wenn die natürliche Religion unzulänglich ist, so ist sie es in Folge des

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